Weltordnung
„Taumelnder Kontinent“
Die EU müsse ein „Supermacht-Projekt“ sein, forderte neulich Gideon Rachman, der außenpolitische Kommentator der Financial Times. Stimmt das?
Zumindest muss sie die Stärke haben, gemeinsame Position zu zentralen Fragen der Weltordnung zu beziehen. Sonst kommen wir unter den Druck anderer Mächte. Die US-Regierung agiert zur Zeit volatil, gibt sich sowohl marktliberal als auch protektionistisch. Sie tendiert zu einem Politikstil, der früher in Washington „crony capitalism“ genannt wurde, verbunden mit einem autoritären Stil der Machtausübung. Nach Donald Trump ändert sich das hoffentlich – aber zur Zeit ist es so. China und Russland betreiben ihrerseits autoritäre Politik, wobei Russland nur ein starkes Militär, aber keine starke Wirtschaft hat. In diesem Umfeld muss sich Europa für einen erneuerten Multilateralismus sowie für das Leitbild demokratisch, rechtsstaatlich sowie sozial- und umweltpolitisch eingebetteter Märkte einsetzen. Dass autoritäre und populistische Tendenzen auch in den Mitgliedsländern selbst virulent sind, macht das nicht leichter.
Was muss die Europäischen Union in der Weltpolitik leisten?
Sie muss auf jedem Politikfeld sprach- und handlungsfähig sein. Wichtig sind insbesondere fünf große Themen mit hoher Weltordnungsrelevanz:
- Die UN brauchen mehr Unterstützung, und Europa hat ein großes Interesse an multilateraler Kooperation. Das ist friedenspolitisch extrem wichtig. Zudem bilden die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals – SDGs) einen Orientierungsrahmen, der universelle Menschenrechte hochhält, europäischen Werten entspricht und weltpolitischen Initiativen eine Richtung gibt.
- Die EU muss sich für eine globale Wirtschaftsordnung einsetzen, die Marktwettbewerb mit sozial- und umweltpolitischen Zielen kompatibel macht. Die große Aufgabe des 21. Jahrhunderts ist es, in den Grenzen des Erdsystems fair verteilten Wohlstand für bald 10 Milliarden Menschen zu ermöglichen. Die große Bedeutung der EU in der Handelspolitik ist dafür eine guter Ausgangspunkt.
- Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei Digitalisierung und innovative Technologien. Es ist bemerkenswert, dass kein Nationalstaat – mit den Ausnahmen USA und China – auch nur annährend eine vergleichbare Rolle bei der Regulierung der großen Internetkonzerne wie Facebook, Google oder Amazon spielt. Kein Unternehmen kann die EU einfach ignorieren, dafür ist ihr Markt viel zu groß. Europa sollte ein Leitbild für nachhaltige Digitalisierung entwickeln (siehe Sabine Balk zum WBGU-Gutachten im Monitor des E+Z/D+C-e-Paper 2019/07) .
- Existenziell wichtig ist zudem die Stabilisierung des Erdsystems. Die Klimakrise, der Zustand der Ozeane, Entwaldung, der Schwund der Artenvielfalt – es besteht großer Handlungsbedarf.
- Die EU muss sich als Zivilmacht für Frieden und Versöhnung einsetzen, was aber auch bedeutet, dass sie über ein Mindestmaß an militärischen Kapazitäten verfügen muss. Es ist nicht mehr möglich, sich wie früher auf die USA zu verlassen.
Globale Probleme erfordern globale Lösungen – und dafür sind Akteure mit globaler Reichweite nötig. Die EU muss einer davon sein.
Entspricht das dem Eigeninteresse der EU oder auch dem globalen Gemeinwohl?
Es entspricht dem Eigeninteresse und geht weit darüber hinaus. Wem wäre denn damit gedient, wenn die EU sich aus der Gestaltung der Weltordnung zurückzöge? Armen Volkswirtschaften und kleinen Ländern sicherlich nicht. Deren Entwicklungschancen hängen von einer einigermaßen fair geregelten Weltordnung ab.
Welche Rolle spielt dabei die konventionelle Entwicklungspolitik im Sinne von ODA (official development assistance)?
2017 finanzierten die EU und ihre Mitglieder ODA im Wert von 75 Milliarden Dollar. Das waren 57 Prozent des weltweiten Aufkommens. Je besser die EU diese Politik koordiniert, desto mehr kann es sich zu einem integrierten und überzeugenden Politikangebot an Partner zusammenfügen. Fragmentierte Entwicklungszusammenarbeit der europäischen Länder blockiert globale Wirksamkeit. Der Fokus muss auf den großen Themen wie Klima, Armut, Ungleichheit und Sicherheit liegen.
Heißt das, dass die EU vor allem auf Entwicklungsländer zugehen sollte? Welche anderen Bündnispartner kommen denn in Frage?
Es sind neue Allianzen nötig, und sie müssen unter anderem die alte Nord-Süd-Kluft überbrücken. Dabei geht es gewiss nicht nur um die kleinsten und ärmsten Länder. Etwa 60 Länder gehören heute weder zu den ärmsten Ökonomien noch zu den aufstrebenden Schwellenländern, und klassische Entwicklungspolitik ist für sie kaum attraktiv. Beispiele sind Indonesien, Peru und Südafrika. Es ist auch nicht nötig, immer mit denselben Partnern zu kooperieren. Klimapolitisch ist eine Allianz mit China nicht nur möglich, sondern auch dringend geboten. Bei Menschenrechten ist das aber diametral anders. Es wäre auch falsch, nur Partnerschaften mit den Regierungen von Nationalstaaten zu erwägen. Die EU kann auch Bündnisse mit US-Bundesstaaten wie Kalifornien oder New York eingehen. Partnerschaften mit Bundesländern oder Kommunen sind sicherlich auch in anderen Ländern sinnvoll – vor allem, wenn die Kooperation mit den nationalen Regierungen schwierig ist. Darüber hinaus sind Privatunternehmen und ihre Verbände wichtige Akteure. Auch in Abstimmung mit Wissenschaft und Zivilgesellschaft lässt sich einiges bewegen.
Nach der Euro- und Flüchtlingskrise und besonders dem Brexit-Referendum wirkt die EU aber derzeit geschwächt. Ist sie der Herausforderung gewachsen?
Das ist schwer vorherzusagen. Sie ist schon aus vielen Krisen gestärkt hervorgegangen.
Braucht die EU so etwas wie eine gemeinsame Sozialpolitik? Solch eine Art gelebter europäischer Solidarität könnte auch so etwas wie eine gemeinsame europäische Identität fördern.
Ja, solche Gedanken führen in die richtige Richtung. Die Bürger der Mitgliedsländer empfinden die EU als ein Elitenprojekt mit einem gemeinsamen Binnenmarkt. Ihre Haltung zur EU würde sich ändern, wenn sie stärker erführen, dass die EU ihnen soziale und menschliche Sicherheit gibt. Zudem zeigen viele Umfragen, dass die EU-Bürger sich eine wirkungsvolle gemeinsame Außenpolitik wünschen.
In der Euro-Krise wurde aber keine gemeinsame Lösung für das gemeinsame Problem der überschuldeten Banken gesucht, sondern die nationale Verantwortung betont. Das Resultat war, dass beispielsweise mit spanischem und irischem Steuergeld dortige Banken so weit gerettet wurden, dass sie ihre Schulden bei deutschen, französischen und britischen Banken bedienen konnten. Andernfalls hätten auch Berlin, Paris und London überschuldete Banken mit Steuermitteln retten müssen. Danach waren dann Spanien und Irland hoch verschuldet und wurden als Sünder dargestellt, die für Fehlverhalten büßen müssten – dabei hatten ihre Opfer dafür gesorgt, dass Deutschen, Franzosen und Briten eine ähnlich strenge Sparpolitik erspart blieb.
Leider entspricht es einem alten Muster, dass die Regierungen von Mitgliedsländern versuchen, ihren jeweiligen Bürgern Belastungen zu ersparen. Zugleich rechnen sie sich Erfolge selbst an, geben aber „Brüssel“ die Schuld, wenn Bürgern etwas zugemutet wird. Auch die Europäische Zentralbank wird mittlerweile allzu oft als Sündenbock dargestellt. Eine Lehre der Euro-Krise ist, dass wir auch in Europa gemeinsame Lösungen für gemeinsame Probleme brauchen – und das erfordert bei gemeinsamer Geldpolitik auch stärkere Vergemeinschaftung der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Zugleich müssen wir darauf achten, dass europäische Institutionen nicht propagandistisch schlechtgemacht werden. Brexit ist auch eine Folge davon, dass rechtskonservative Kreise über Jahrzehnte gegen die EU Stimmung gemacht haben. Mit Blick auf die EZB lassen sich solche Tendenzen zuweilen auch hierzulande erkennen. Bislang nimmt die deutsche Öffentlichkeit kaum wahr, dass die Bundesrepublik von der Währungsunion erheblich profitiert. Ohne den Euro hätten wir einen viel höheren Wechselkurs. Diese Dinge machen Japan und der Schweiz schwer zu schaffen – und das sind Länder mit ähnlich strukturierten Volkswirtschaften.
Taugt die EU eigentlich als Vorbild für supranationale Politikgestaltung?
So wurde sie jedenfalls vor nicht allzu langer Zeit noch gesehen. Angesichts ihrer großen internen Probleme wirkt ihr Vorbild aber heute nicht überzeugend. Europa kommt mir zurzeit wie ein „taumelnder Kontinent“ vor. Diese Worte hat der Historiker Philipp Blom benutzt, um Europa in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg zu kennzeichnen. In vieler Hinsicht war die Lage zwischen 1890 und 1910 ähnlich wie heute. Es gab große Umbrüche in Gesellschaft, Industrie und Wissenschaft. Darauf folgte dann von 1914 bis 1945 eine Periode des zerstörerischen Europas – mit katastrophalen Folgen weit über Europa hinaus. Nach dem Zweiten Weltkrieg bis Mitte dieses Jahrzehnts wurde Europa dann tatsächlich zum weltweit interessantesten Laboratorium für grenzüberschreitende Kooperation. Hoffentlich wächst die EU an den aktuellen Krisen.
Dirk Messner ist Ko-Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen (WBGU) der Bundesregierung und Direktor des Instituts für Umwelt und menschliche Sicherheit der UN-Universität (UNU-EHS) in Bonn und Vice-Rektor der United Nations University (UNU). Ab Januar 2020 wird er Präsident des Umweltbundesamtes.
messner@ehs.unu.edu