Politikwissenschaft
Zugriff verweigert
Unter Xi Jinping werden sämtliche Bereiche der chinesischen Gesellschaft zunehmend eingeschränkt. Kommunistische Partei, Privatwirtschaft, Medien und Internet, Zivilgesellschaft und akademische Welt – überall wird versucht, die „Freiheitsgrade“ zu beschneiden. Ich möchte China hier nicht meine „westlichen Werte“ aufzwingen oder gar diktieren, wie das Land zu führen ist. Es geht mir vielmehr um „uns“, um westliche Gesellschaften, Institutionen, Unternehmen und Individuen und darum, wie wir mit China umgehen.
Die chinesische Informationspolitik verschärft sich. Es war nur eine Frage der Zeit, wann versucht würde, westliche Verlage zu kontrollieren. Als Erstes traf es die Cambridge University Press. Sie beugte sich den chinesischen Behörden und entfernte Inhalte von ihrer chinesischen Website. Akademiker reagierten empört; aus Angst, sein Ruf könnte dauerhaft Schaden nehmen, machte der Universitätsverlag die Löschung rückgängig. Manche Verlage folgten ihm. Andere hingegen, MIT, Oxford und die Chicago University Press etwa, verweigerten sich einer Selbstzensur.
Springer Nature kommt eine besondere Position zu – nicht nur, weil er einer der weltweit größten wissenschaftlichen Fachverlage ist, sondern auch, weil er chinesischen Internetnutzern den Zugriff auf bestimmte Inhalte verweigert. Dieses Vorgehen hat Springer Nature sehr ehrlich verteidigt. Man nimmt in Kauf, einen kleinen Teil des Katalogs zu entfernen (immerhin mehr als 1 000 Artikel), um dafür Material, das dem chinesischen Staat genehm ist, weiter zugänglich machen zu können.
Das ist ein stichfestes ökonomisches Argument. Das betroffene Material stammt ausschließlich aus Zeitschriften, die Arbeiten zur chinesischen Politik und ähnlichen Gebieten veröffentlichen – was ein sehr kleiner Teil des Outputs von Springer Nature ist. Verglichen mit der großen Nachfrage, die es in der Volksrepublik nach teuren medizinischen, technischen, Wirtschafts- und Sprachlerntexten gibt, sind die wirtschaftlichen Folgen für den Verlag unerheblich.
Jenseits der rein ökonomischen Kosten-Nutzen-Analyse wirft die Haltung von Springer Nature Fragen auf. Der Herausgeber untergräbt Ethos (Gedankenfreiheit und Verbreitung) und Prozess (Überprüfung durch Kollegen statt durch politische Beamte), auf denen akademische Forschung beruht, indem er die chinesische Regierung entscheiden lässt, was „legitimes Wissen“ ist. Unter dieser Voraussetzung sollten wir hinterfragen, ob Springer Natures Rolle im Wissenschaftsbetrieb zulässig ist. Wie können wir an die Integrität einer akademischen Institution glauben (denn das sind Verlage, auch wenn sie Wirtschaftsunternehmen sind), wenn sie solche Entscheidungen einem Gremium überlässt, das keinen wissenschaftlichen Bezug hat und politische statt akademischer Interessen verfolgt?
Wenn ich einem Wissenschaftsverlag ein Manuskript vorlege (das auf meiner vom britischen Steuerzahler bezahlten Arbeit basiert), gehen wir einen informellen Vertrag ein. Ich vertraue darauf, dass mein Text kritisch, aber fair von kompetenten Akademikern geprüft wird, die der Verleger ausgewählt hat und deren Identität ich nicht kenne. Wird meine Arbeit per Blind Peer Review als wissenschaftlich wertvoll erachtet, gehe ich davon aus, dass der Artikel zeitnah und den gängigen Standards gemäß veröffentlicht und allen Abonnenten zugänglich gemacht wird.
Ist dem nicht so, wird mein Vertrauen gebrochen und zugleich das aller Akademiker-Kollegen. Ob ein Aufsatz wissenschaftlich wertvoll ist, sollte nicht eine Regierung entscheiden, der es um politische Korrektheit geht.
Das mag angesichts der „vernachlässigbaren“ Folgen abstrakt klingen, und wahrscheinlich betreffen die blockierten Inhalte in China eine überschaubare Leserschaft. Aber es gibt praktische Implikationen. Werden Artikel chinesischer Wissenschaftler entfernt, so kann das deren Karriere gefährden. Die Jahre der Hingabe und der harten Arbeit, die es braucht, um akademische Forschung zu veröffentlichen, werden zunichtegemacht, wenn Autoren aufgrund der Eigenheiten einer simplen Schlüsselwortsuche – offenbar die von Springer Nature verwendete Methode – nicht angestellt oder befördert werden.
Noch sind solche Szenarien unwahrscheinlich. Ich fürchte aber, dass wir am Anfang einer Abwärtsspirale stehen. Hier wurde ein Präzedenzfall geschaffen. Was kann Springer Nature künftig tun, außer nachzugeben, wenn die chinesischen Behörden erneut fordern, Inhalte zu entfernen? Heute wurden „hochsensible“ Themen wie Tibet und die Kulturrevolution unzugänglich gemacht; morgen mögen es bereits weniger sensible Themen sein und so weiter. Dies ist ein heikler Weg, an dessen Ende die chinesische Definition davon steht, was legitimes Wissen ist.
Es ist nicht an mir, China Vorgaben zu machen. Aber für uns Wissenschaftler außerhalb Chinas ist es ein untragbarer Eingriff in unserer grundlegenden Freiheiten, wenn eine ausländische Regierung den Wert unserer Arbeit bestimmt.
Hinzu kommt, dass Chinas globales Engagement zunimmt. Das Land wird sich in wachsendem Maße darum bemühen, seine Interessen durchzusetzen und zu schützen. Dabei wird es unweigerlich auf unsere Interessen stoßen. Daher ist es notwendig, dass wir uns in der westlichen akademischen Welt – und in den westlichen Gesellschaften allgemein – über unsere Interessen und Werte Gedanken machen. Wir sollten uns klarmachen, was wir schätzen und was wir tun wollen, um unsere Werte zu schützen. Schätzen wir die Freiheiten wissenschaftlicher Forschung und Veröffentlichung hoch? Oder sind sie verhandelbar?
Jonathan Sullivan ist Direktor des China Policy Institute an der Universität Nottingham.
jonathan.sullivan@nottingham.ac.uk
Korrektur, 21 April 2018: Der Autor hat uns gebeten, einen Satz aus dem ursrpünglichen Text zu streichen. Darin hieß es, der Verlag Sage erwäge gegebenenfalls Selbstzensur. Sage hat Sullivan mittlerweile kontaktiert und mitgeilt, das sei nicht der Fall. Die Position des Verlags sei von der FT, eine Quelle Sullivans, irrtümlich falsch dargestellt worden.