Internationale Organisationen

Eine Reformagenda für die ILO

Aus verschiedenen Gründen ist die Drei-Parteien-Struktur der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization – ILO) wenig geeignet, um große Herausforderungen zu meistern.
Arbeiter-Denkmal in Genf. Saner Arbeiter-Denkmal in Genf.

Ier ILO gehören Regierungen, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften an. Diese Dreigliederung war lange nützlich (siehe Hauptartikel), repräsentiert aber die heutige Arbeitswelt nicht mehr. In Volkswirtschaften von Ländern mit niedrigem Einkommen dominiert meist der informelle Sektor. Selbst in Indien, dem Giganten unter den Schwellenmärkten, macht der informelle Sektor etwa 90 Prozent der Beschäftigung aus. Gewerkschaften vertreten jedoch meist nur Arbeitnehmer in formellen Arbeitsverhältnissen, die es in Entwicklungsländern oft nur in öffentlichen Unternehmen und Regierungsorganisationen gibt.

Die ILO kann sich daher in Ländern mit niedrigem Einkommen nicht angemessen mit Arbeitsfragen beschäftigen. Erst wenn der informelle Sektor berücksichtigt wird, ändert sich daran etwas. Insofern wäre es sinnvoll, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Sitzungen und Verfahren der ILO einzubeziehen. Viele NGOs befassen sich mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit und sind unabhängig von Regierungen. Ihre Rolle bei der Erreichung der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung wird allgemein geschätzt – daher sollten auch NGOs Teil der ILO werden können.

Aus ähnlichen Gründen sollten sich auch Genossenschaften einbringen. In vielen Ländern erwirtschaften sie sieben bis 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Da sie ihren Mitarbeitern gehören, tragen sie nicht nur zur Beschäftigung bei, sondern fördern auch soziale Eingliederung und sozialen Zusammenhalt. Genossenschaften unterscheiden sich grundlegend von anderen privatwirtschaftlichen Unternehmen und gehören nicht zum öffentlichen Sektor. Ihre Einbeziehung in die ILO würde diese Organisation ganzheitlicher machen und wäre ein Ausgleich zur Vormacht der Arbeitgeber.

Der Tripartismus war, als die ILO gegründet wurde, eine wichtige soziale Erfindung. Verweigert aber eine der drei Parteien, sich zu bestimmten Themen zu äußern, findet keine Diskussion statt, wie in den vergangenen beiden Jahren, als Arbeitgebervertreter die Debatte über wichtige Fragen – etwa zum Existenzminimum – blockierten. Digitalisierung und Globalisierung verändern die Arbeitsbeziehungen. Daher sind Debatten wichtig und eine breite Beteiligung wäre ihnen nur zuträglich. Genossenschaften und NGOs sollten einbezogen werden.

So oder so muss die ILO demokratischer werden. Ihr Verwaltungsrat besteht aus 56 ständigen Mitgliedern (28 Regierungen, 14 Arbeitgeberverbänden und 14 Gewerkschaften) sowie 66 nichtständigen Mitgliedern (28 Regierungen, 19 Arbeitgebern und 19 Arbeitnehmern). Problematisch ist auch die nicht überzeugende Menschenrechtsbilanz von zehn ständigen Mitgliedsregierungen. Zudem mangelt es an Transparenz bei der Wahl der Vertreter von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Ein demokratischeres und repräsentativeres Regierungssystem würde der ILO helfen, sich den Herausforderungen eines sich rasch wandelnden internationalen Umfelds zu stellen.

Bisher ist die Umsetzung der ILO-Kernarbeitsnormen weltweit uneinheitlich. Einige Mitgliedstaaten haben nicht alle einschlägigen Übereinkommen ratifiziert und viele erfüllen nicht die Pflichten, die sie eingegangen sind.

Die Mitgliedstaaten müssen der ILO regelmäßig über die Einhaltung ihrer Regeln berichten. Ein Expertenrat überprüft diese Berichte und stellt eine schwarze Liste der 30 schlimmsten Delinquenten auf. Außer dieser Auflistung (und der damit verbundenen Blamage) hat die ILO jedoch keine Möglichkeiten, ihre Regeln durchzusetzen. Es gibt kein gerichtliches Verfahren, über das fehlbare Länder sanktioniert werden könnten. Die WTO ermöglicht nicht einmal eine öffentliche Debatte über die Erfolgsbilanz der Mitgliedsländer, wie es beispielsweise der UN-Menschenrechtsrat tut. Auch könnte mehr Medienpräsenz nicht schaden.

Zudem braucht die ILO ein wirksames Beschwerdeverfahren. Personen, deren Rechte verletzt wurden, sollten Rechtsmittel einlegen können. Ein Anfang ist die Multinational Enterprise Declaration (MNE) der ILO von 1977, die derzeit überarbeitet wird. Im Wesentlichen handelt es sich um eine Zusammenfassung der ILO-Regeln sowie um Empfehlungen für deren Anwendung auf Großunternehmen. Menschen, deren Rechte verletzt wurden, können das allerdings nicht direkt bei der ILO melden, sondern müssen sich an eine dreigliedrige „nationale Anlaufstelle“ wenden. Dieses Gremium wird den Fall anhören, über dessen Bedeutung entscheiden und ihn dann der ILO zur Überprüfung vorlegen. Allerdings sind Arbeitgeberverbände Bestandteil der nationalen Anlaufstellen. Sie können somit Verfahren blockieren und gegen Abhilfemaßnahmen vorgehen. Die MNE-Erklärung ist gut gemeint, aber leider zahnlos. Das Beschwerdeverfahren muss transparenter, wirksamer und rechtsverbindlicher werden. (rs)