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Verfassungsreferendum

Protestbewegung: Chile wagt mehr Demokratie

Die Chilenen haben mit überwältigender Mehrheit dafür gestimmt, die Verfassung aus der Pinochet-Ära von einer direkt vom Volk gewählten Bürgerversammlung überarbeiten zu lassen. Nun beginnt die harte Arbeit.
Trotz der Pandemie sind die Menschen wählen gegangen. Olivares/picture-alliance/AA Trotz der Pandemie sind die Menschen wählen gegangen.

Unter den faszinierten Blicken der Welt sind in der Nacht zum 25. Oktober Tausende jubelnder Chilenen auf die Straßen geströmt, um die erdrutschartige Abstimmung für eine Neufassung ihrer Verfassung zu feiern.

Die Chilenen stimmten mit großer Mehrheit für die Überarbeitung der unter der Diktatur Augusto Pinochet (1973 bis 1990) verabschiedeten Verfassung, in der marktwirtschaftliche Prinzipien verankert sind. Zugleich votierten sie dafür, dass eine direkt vom Volk gewählte Bürgerversammlung die Überarbeitung übernimmt – ohne Beteiligung etablierter Politiker.

Das überwältigende Votum für die Reform zielt auf eine Verfassung ab, bei der es mehr um soziale Gleichheit als um freien marktwirtschaftlichen Wettbewerb geht. Der Sieg der Reformer war beeindruckend – umso mehr, als er während der Covid-19-Krise stattfand, die Gesundheit, Finanzen und allgemeines Wohlbefinden der Chilenen stark geschädigt hat.

Wie und warum es in Chile, einem der stabilsten Länder der Region, dazu kam, offenbart eine Betrachtung der Ereignisse von vor einem Jahr, vor allem des 18. Oktobers 2019. An diesem Tag gingen, nach mehrtägigen Protesten von Oberschülern gegen eine Erhöhung der U-Bahn-Preise in Santiago, Tausende von Menschen auf die Straße, um gegen die ständig steigenden Lebenshaltungskosten und den fehlenden Schutz der Schwachen zu protestieren.

Der spontane Aufstand nahm zum Teil gewaltsame Züge an. Es gab Zusammenstöße mit der Polizei und Plünderungen, 20 U-Bahn-Stationen wurden niedergebrannt. Die geballte Wut, die sich in den Protesten ausdrückte, überraschte viele – dabei gab es seit Jahrzehnten Anzeichen für den wachsenden Unmut.

Seit 2006 gab es in Chile immer wieder Aufstände. Studenten, Rentner, Frauen und Umweltschützer protestierten gegen die enorme Ungleichheit. Weitere Proteste richteten sich gegen illegale Finanzierung politischer Kampagnen und gegen Firmenabsprachen, um die Preise für Medikamente, Lebensmittel und sogar Papier zu manipulieren.

Derweil geriet die chilenische Polizei wegen Gewaltexzessen, insbesondere gegen die indigene Gruppe der Mapuche, in die Kritik. Als im November 2018 die Polizei den jungen Bauern und Mapuche Camilo Catrillanca erschoss, kam es zu Demonstrationen.

Angesichts dieser Ereignisse war die Fahrpreiserhöhung in Santiago für viele Chilenen der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es ging um 30 chilenische Pesos pro Ticket, umgerechnet etwa drei Eurocent. Doch diese drei Cent – auferlegt von einer politischen Klasse, der die Armen dem Anschein nach egal sind – waren explosiv.


Vereint, aber vielseitig

Interessanterweise gab es bei dem Aufstand im Oktober 2019 keine spezifischen Forderungen und keinen Wortführer. Der Protest war weitgehend unorganisiert; er bezog seine Wucht direkt aus dem Volk, nicht aus einer politischen Partei. Laut Emmanuelle Barozet, Soziologin am Zentrum für Konflikt und sozialen Zusammenhalt der Universität von Chile, ist der Aufstand „wie andere Bewegungen auf der Welt eine vielseitige Bewegung. Spricht man mit den Demonstranten, erfährt man eher, gegen wen sie sind, als was sie wirklich wollen.“

Dennoch weitete sich die Reformbewegung auf ganz Chile aus, innerhalb weniger Monate kam es in 15 Städten zu Protesten. Die Demonstranten drückten überall ähnliche Bedenken aus und riefen Slogans wie „Chile ist erwacht”, „die Menschen fordern Würde” und „es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre” – und stellten damit die Preiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr in den Kontext von 30 Jahren Sparpolitik.

Die Demonstranten teilten auch den Unmut über Menschenrechtsverletzungen. Während dieses Jahres voller Unruhen starben laut Staatsanwaltschaft mehr als 30 Menschen, Chiles Institut für Menschenrechte hat seit dem 18. Oktober 2019 mehr als 3000 Menschenrechtsverletzungen registriert. Etwa 163 Menschen erlitten Augenverletzungen, als die Polizei mit Gummigeschossen auf sie schoss – 32 verloren so ihr Augenlicht.

Repressives Auftreten der Polizei konnte die Proteste nicht mindern. Vielmehr mobilisierten sie die Opposition gegen Präsident Sebastián Piñera, einen konservativen Geschäftsmann, und die gesamte politische Klasse. Der Ruf nach dem Rücktritt des Präsidenten wurde für die Exekutive immer bedrohlicher. Als sich die Militärführung weigerte, Truppen zur Unterdrückung von Demonstrationen zu entsenden, schwächte dies Piñeras Position weiter.

Am 15. November 2019 schlugen Vertreter verschiedener Fraktionen nach anhaltenden Protesten vor, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Per Volksabstimmung sollte ermittelt werden, ob die Chilenen eine neue Verfassung wünschten und falls ja, wer diese erarbeiten soll.

Dem Präsidenten ersparte das zunächst weitere Rücktrittsforderungen, zugleich musste er die Verfassung – das wichtigste Vermächtnis des Pinochet-Regimes – aufs Spiel setzen. Die Verfassung wurde 1980 von einer für Menschenrechtsverletzungen berüchtigten Regierung verabschiedet; sie favorisiert eindeutig den Wettbewerb. So garantiert sie etwa in den Bereichen Gesundheitsversorgung und Bildung zwar das Recht, zwischen konkurrierenden Anbietern zu wählen, aber nicht den Zugang zu diesen Dienstleistungen. Auch den Wassersektor kennzeichnet eine übermäßige Abhängigkeit vom Markt (siehe Katie Cashman im E+Z/D+C e-Paper 2020/06, Schwerpunkt).

Die geltende Verfassung erfordert ein besonderes, qualifiziertes Quorum für Änderungen. Das macht es praktisch unmöglich, sie per Gesetz zu ändern. Über die Jahre blieb das Dokument in aufeinanderfolgenden sozialchristlichen, sozialistischen und konservativen Regierungen unverändert. Das demokratische Chile verabschiedete sich 1990 zwar von Pinochet, behielt aber seine institutionelle Gestaltung und sein Gesellschaftsmodell bei.

Einige Mitglieder der vielfältigen Protestbewegung reagierten zunächst misstrauisch auf den Vorschlag einer Verfassungsreform. Letztlich aber erkannten sie darin eine Chance, und die Mehrheit stimmte dem Vorgehen zu. Als das Referendum näher rückte, waren sich fast alle einig, dass eine öffentliche Abstimmung erfolgen soll.


Demokratie inmitten einer Pandemie

Kaum jemand hatte jedoch vorausgesehen, welchen Schaden Covid-19 in Chile anrichten würde. Wegen Quarantäne, Ansteckungsgefahr und Arbeitslosigkeit musste das Referendum von April 2020 auf Oktober vertagt werden. Es gab Tausende Tote; es bestand die Gefahr, dass der Prozess ausgebremst und die Fortschritte untergraben würden.

Vor diesem Hintergrund wurde die Durchführung des Referendums zur Bewährungsprobe: Würden die Chilenen sich weiterhin einer herausfordernden Sozialreform stellen, oder konzentrierten sie sich darauf, die Covid-19-Krise zu überstehen?

Sie wollten die Reform. Mehr als 7,5 Millionen Chilenen – die Hälfte der wahlberechtigten Bevölkerung und fast eine Million mehr als bei den letzten Präsidentschaftswahlen – stimmten am 25. Oktober ab: mit einer 78-Prozent-Mehrheit für eine neue Verfassung und mit einer 79-Prozent-Mehrheit dafür, diese von direkt gewählten Bürgern ohne Beteiligung von Parlamentsabgeordneten verfassen zu lassen.

Zum Feiern dieses Erfolges blieb wenig Zeit. Unmittelbar im Anschluss begannen die Debatten über die Zusammensetzung der Gruppe, die die Verfassung neu aufsetzen soll. Manch Kommentator befürchtete, diese Bürgerversammlung könne zu einem Machtzentrum werden, das die Autorität des Parlaments in Frage stellt.

Andere, wie der Vorsitzende der Lehrergewerkschaft, Mario Aguilar Arévalo, befürchteten, die Gruppe könne unter den Einfluss politischer Parteien geraten und so ihre Legitimität verlieren. „Es ist wichtig, den Druck für Reformen aufrechtzuerhalten”, so Arévalo.

Eine wichtige Vereinbarung besteht darin, die Bürgerversammlung geschlechtergerecht – mit 50 Prozent Frauen – zusammenzustellen. Auch Mindestquoten für Indigene sind im Gespräch sowie die Repräsentanz von unabhängigen Parteilosen. Laut Paulina Astroza, Rechtsanwältin und Mitglied eines Netzwerks unabhängiger Wähler, wird deren Teilnahme dazu beitragen, dass die Wählerwünsche im Mittelpunkt stehen. „Wenn wir eine Verfassung wollen, die widerspiegelt, was gesellschaftlich gefordert wird, müssen die Unabhängigen einbezogen werden”, sagt sie.

Trotz ihres großen Sieges wartet viel Arbeit auf die Reformer. Nächster Schritt ist ein für April 2021 angesetztes Referendum, um die Mitglieder der Bürgerversammlung zu wählen. Diese haben dann ein Jahr Zeit, um einen Verfassungsentwurf vorzulegen. Im August 2022 stimmen die Chilenen in einem weiteren Referendum darüber ab, ob sie mit dem Entwurf einverstanden sind.

Während die Proteste nachlassen, sind die Straßen voller Bürger mit Masken und Desinfektionsmitteln anstelle von Plakaten. Corona hat die unmittelbaren Herausforderungen verändert. Doch die Entschlossenheit ist geblieben.


Javier A. Cisterna Figueroa ist Journalist und lebt in Concepción.
cisternafigueroa@gmail.com