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Warum die belarussische Opposition gewaltfrei bleiben sollte

Ein Buch von zwei Politikwissenschaftlerinnen erklärt die Gründe.
Trauergäste bei der Beerdigung eines von der Polizei erschlagenen jungen Mannes in Minsk am 20. November. picture-alliance/Associated Press Trauergäste bei der Beerdigung eines von der Polizei erschlagenen jungen Mannes in Minsk am 20. November.

Alexander Lukaschenko regiert Belarus auf zunehmend autoritäre Weise seit 1994. Er behauptet, die Präsidentschaftswahl im August mit 80 Prozent Zustimmung gewonnen zu haben, aber die Opposition spricht von Betrug. Sie organisiert Sonntag für Sonntag Großdemonstrationen, deren schiere Größe zeigt, dass Lukaschenkos Behauptungen nicht stimmen können. Sicherheitskräfte haben immer wieder versucht, den Widerstand mit Gewalt zu brechen, haben die Protestierenden aber weder eingeschüchtert noch zu Gegengewalt provoziert.

Der Erfolg der Demokratiebewegung ist nicht garantiert – und die Auseinandersetzung kann lange dauern. Die gewaltfreie Strategie ist aber aus Sicht von zwei Politikwissenschaftlerinnen richtig: 2011 erläuterten Erica Chenoweth und Mary J. Stephan in „Why civil resistance works“, weshalb ziviler Ungehorsam eine doppelt so hohe Erfolgschance hat wie gewaltsamer Widerstand. Sie stützten sich dabei auf einen Datensatz von rund 250 Aufständen weltweit im 20. Jahrhundert.

Wesentlich ist aus Sicht der Autorinnen, dass Gewaltfreiheit breitere Unterstützung mit höherer Diversität gewinnt. Es erfordere selbstverständlich Mut, einem repressiven Regime friedlich entgegenzutreten, aber meist wirke gewalttätiges Vorgehen noch furchterregender. Zudem fänden die Anliegen gewaltfreier Akteure oft Anklang bei vielen Menschen. Weder rigide Organisation noch strikte Weltbilder seien nötig. Die Aufmerksamkeit bleibe auf die Ziele gerichtet, ohne von ethischen Bedenken beeinträchtigt zu werden. Vorwürfe des Terrorismus blieben meist wenig überzeugend.

Laut Chenoweth und Stephan kann staatliche Repression militante Akteure relativ leicht unterdrücken. Das erweist sich bei zivilem Ungehorsam oft als Bumerang, wenn immer mehr Menschen das Vorgehen der Sicherheitskräfte für ungerechtfertigt und überzogen halten. Auch innerhalb von Polizei und Militär wüchsen dann Zweifel. Dagegen festigten gewalttätige Rebellen den Zusammenhalt von Sicherheitskräften und Regierung. Eine Bewegung müsse für ihren Erfolg aber die Regierung von ihren Unterstützern abspalten.

Dem Buch zufolge beruhen gewaltfreie Bewegungen typischerweise darauf, dass Menschen vor Ort weitverbreiteten Ärger artikulieren. Aus dem Ausland sei so etwas nicht zu organisieren. Allerdings könne Unterstützung aus dem Ausland helfen – Solidaritätskampagnen, Forderungen nach Einhaltung der Menschenrechte oder die diplomatische Isolation eines autoritären Regimes. Abermals ist der Vergleich mit gewalttätigen Bewegungen aufschlussreich. Den Autorinnen zufolge haben sie nur selten ohne aufwändige ausländische Unterstützung Erfolg – Unterstützung, die sowohl in Bezug auf Geld und politische Legitimität dann auch viel teurer sei.

Chenoweth und Stefan behaupten nicht, gewaltfreier Widerstand habe immer Erfolg. Sie betonen nur, dass die Erfolgsaussichten besser sind – und zwar auch langfristig. Das jeweilige Land sei mit größerer Wahrscheinlichkeit zehn Jahre später eine Demokratie. Wo kein Bürgerkrieg stattfinde, sei später Abgleiten, aber kein Rückfall ins Blutvergießen möglich.

Kurz vor Drucklegung begann der Arabische Frühling, auf den ein kurzer Epilog im Buch eingeht. Die Autorinnen schätzten seinerzeit, Ägypten hätte eine 30-prozentige Chance, wenn die dortige Protestbewegung weiter dem Vorbild anderer erfolgreicher gewaltfreier Aufstände (etwa in den Philippinen 1986 oder der DDR 1989) folge. Dieser Wert sei vielleicht nicht sonderlich inspirierend, schrieben sie, wäre aber „viel näher bei null“, hätten die Protestierenden Gewalt angewandt – oder sich gar nicht entschlossen, auf die Straße zu gehen.

Chenoweth ist heute Professorin an der Harvard University in Boston, und Stephan leitet ein Programm am US Institute of Peace in Washington. Als „public intellectuals“ zeigen beide großes Interesse am Schicksal ihrer eigenen Nation, den USA, wo Präsident Donald Trump schon vor Jahren begann, die Legitimität von Wahlen zu unterhöhlen. Die Twitter-Feeds der beiden Kolleginnen (@EricaChenoweth und @MariaJStephan) geben einen guten Einblick in die Aktivitäten, mit der Graswurzelorganisationen auf diese Bedrohung reagieren und so dazu beitragen, dass Wahlsieger Joe Biden auch wirklich Präsident wird.

Chenoweth ist zudem in ein empirisches Forschungsprojekt über die „Black Lives Matter“-Bewegung involviert. In der Washington Post (paywall) berichtete sie, dass Vandalismus in diesem Zusammenhang meist von der Polizei oder Rechtsextremisten provoziert worden sein. Trump versuchte dann bekanntlich, politisch mit dem Slogan “law and order” davon zu profitieren. Daraus folgt, dass die Medien sorgfältiger berichten müssen. Allzu oft erfährt die Öffentlichkeit gar nicht, warum Gewalt eskaliert ist – und die bloße Tatsache, dass sie eskaliert ist, lenkt von den berechtigten Forderungen einer Bewegung ab.


Buch
Chenoweth, E., und Stephan, M.J., 2011: Why civil resistance works – The strategic logic of nonviolent conflict. New York, Columbia University Press.