Brasilien
Jair Bolsonaros Verurteilung: Ein Meilenstein für die Demokratie
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Am 11. September 2025 fällte der Oberste Bundesgerichtshof von Brasilien ein historisches Urteil. Er verurteilte Ex-Präsident Jair Bolsonaro und sieben enge Verbündete – darunter ehemalige Generäle – wegen Verschwörung zum Umsturz der demokratischen Ordnung. Wir erinnern uns an die Politik des rechtsextremen Ex-Präsidenten (2019–2022) – oder eher an seine Politik der Untätigkeit: Er gefährdete die Artenvielfalt des Amazonas und leugnete die Gefahr durch die Pandemie. Doch damit nicht genug: Bolsonaro war auch dafür berüchtigt, demokratische Institutionen zu untergraben, etwa indem er das seit Langem bewährte elektronische Wahlsystem Brasiliens infrage stellte. Als er 2022 die Stichwahl gegen den derzeitigen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva verlor, erkannte er das Wahlergebnis nicht an.
Am 8. Januar 2023, nur eine Woche nach Lulas Amtseinführung, stürmten Tausende von Bolsonaro-Anhänger*innen den brasilianischen Kongress, den Obersten Gerichtshof und den Regierungspalast in Brasília. Sie plünderten die Gebäude und forderten einen Militärputsch, um Lula zu stürzen und Bolsonaro wieder einzusetzen.
Diese Gewaltszenen waren nur der sichtbare Teil eines größeren Komplotts, das Polizei und Staatsanwaltschaft hinterher durch ihre Ermittlungen aufdeckten. Auf die Ermittlungen hin klagte ein fünfköpfiges Gremium des Obersten Bundesgerichts Bolsonaro an – wegen Führung einer kriminellen Vereinigung, des Versuchs, die Demokratie gewaltsam abzuschaffen, Planung eines Staatsstreichs, Beschädigung öffentlichen Eigentums und sogar wegen Verschwörung zur Ermordung wichtiger demokratischer Persönlichkeiten wie Präsident Lula und Richter Alexandre de Moraes. Die einzige abweichende Stimme im Prozess war die von Richter Luiz Fux. In einer ungewöhnlich langen, zehnstündigen Rede forderte er, den Fall aus verfahrensrechtlichen und materiellen Gründen für nichtig zu erklären. Das Gericht verurteilte Bolsonaro dennoch mit vier zu einer Stimme.
Verurteilt wegen des Angriffs auf die demokratische Ordnung
Für Bolsonaro und seine Anhänger*innen war es ein politischer Prozess. Besonders Richter de Moraes, der während der Wahlen 2022 den Obersten Wahlgerichtshof leitete und Bolsonaros Wahlbetrugsbehauptungen entschieden zurückwies, ist bei den Bolsonaristas unbeliebt. Der Richter nahm auch nach den Ereignissen vom 8. Januar 2023 eine klare Haltung ein. Als 2024 Ermittlungen wegen Desinformationskampagnen der extremen Rechten liefen, ordnete er an, den Betrieb des Netzwerks X in Brasilien temporär einzustellen.
Doch der Bolsonaro-Prozess war keine Aktion eines Einzelkämpfers. Brasilien ist seit Langem bekannt für seine starken Justiz- und Strafverfolgungsbehörden sowie die Unabhängigkeit seiner Gerichte. Und tatsächlich kann von politischer Verfolgung keine Rede sein, da die Versuche, die Demokratie zu untergraben, so dreist und ungeheuerlich waren.
In einem herausragenden Gerichtsurteil wurde der Ex-Präsident wegen seiner zentralen Führungsrolle in der mutmaßlichen Verschwörung zu 27 Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Auch die weiteren Täter – außer einem, der mit der Staatsanwaltschaft kooperierte und als Zeuge aussagte – erhielten lange Haftstrafen, meist von mindestens 19 Jahren. Was diesen Prozess historisch macht, ist, dass er nicht nur den Ex-Präsidenten betrifft: Erstmals wurden auch hochrangige Militärs vor Zivilgerichten wegen Verschwörung zum Sturz der demokratischen Ordnung zur Verantwortung gezogen.
Wenn die Mächtigen zur Rechenschaft gezogen werden
Aber ist der Bolsonaro-Prozess auch einzigartig in Lateinamerika? Seit den demokratischen Übergängen Ende des 20. Jahrhunderts wurde gegen Dutzende ehemalige Staatsoberhäupter ermittelt oder sie wurden vor Gericht gestellt. Die Anklagen reichten von Korruption und illegaler Bereicherung bis hin zu Menschenrechtsverletzungen und Wahlvergehen. Allein in diesem Jahr gab es neben dem Bolsonaro-Prozess zwei weitere Fälle. Im Juli wurde Ex-Präsident Álvaro Uribe in Kolumbien wegen Zeugenbeeinflussung und Verfahrensbetrugs zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Er wurde für schuldig befunden, inhaftierten Paramilitärs – über seine Anwälte – Geld und Vorteile geboten zu haben, um sie zu Falschaussagen zu bewegen. Sie sollten Vorwürfe ausräumen, dass er Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen habe.
Obwohl Uribe aktuell bis zur Berufungsverhandlung auf freiem Fuß ist, ist hiermit erstmals ein kolumbianischer Ex-Präsident strafrechtlich verurteilt worden. Argentinien seinerseits verurteilte bekanntlich 1985 die De-facto-Präsidenten der letzten Militärdiktatur (1976–1983) wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit – ein Meilenstein in der Geschichte Argentiniens – sowie den demokratisch gewählten Präsidenten Carlos Menem (1989–1999) wegen strafrechtlicher Vorwürfe. In diesem Jahr wurde die ehemalige Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner (2007–2015) wegen schwerer Veruntreuung öffentlicher Gelder während ihrer Amtszeit verurteilt. Sie verbüßt derzeit eine sechsjährige Haftstrafe unter Hausarrest.
In einem polarisierten Umfeld ist es schwierig, mächtige Führungspersönlichkeiten zur Verantwortung zu ziehen. Alle drei in diesem Jahr verurteilten Politiker*innen behaupten, ihre Verurteilungen seien politisch motiviert. Sie stellen damit die Legitimität der Gerichtsverfahren infrage: Uribe betonte die Unfairness des Verfahrens und die Voreingenommenheit der Justiz, Bolsonaro schloss sich der Klage seines Verbündeten Donald Trump über eine „Hexenjagd“ an, während Fernández ihren Fall als „Lawfare“ darstellte und sich selbst als Ziel elitärer Verschwörungen präsentierte. Alle drei mobilisierten ihre Anhängerschaft, sodass diese auf die Straße gingen.
Alle drei Fälle testen die Möglichkeiten und die Reichweite des Rechtsstaats aus. Der Prozess gegen Bolsonaro hebt sich jedoch ab, weil es hier um einen Versuch ging, die demokratischen Institutionen zu unterwandern. Er ist ein wichtiger Präzedenzfall für die Verteidigung der konstitutionellen Demokratie in einer Zeit, in der zunehmend nichtdemokratische Politiker*innen über die Wahlurne in politische Ämter gelangen.
Mariana Llanos ist leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin am German Institute for Global and Area Studies (GIGA) und Ko-Chefredakteurin der GIGA-Publikation „Journal of Politics in Latin America“. Sie hält den ERA-Lehrstuhl an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag und ist außerordentliche Professorin für „Demokratische Institutionen im Globalen Süden“ an der Universität Erfurt.
mariana.llanos@giga-hamburg.de