Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Genitalverstümmelung

„Viele gesellschaftliche Faktoren“

Mariame Racine Sow, die 1989 vom Senegal nach Deutschland kam, hat vor mehr als 20 Jahren einen Verein in Deutschland gegründet, der sich für die Beendigung der weiblichen Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation – FGM) einsetzt. Sie berät in Frankfurt betroffene Migrantinnen. Neuerdings wenden sich immer häufiger Familien an sie, die mit Rassismus-Erfahrungen zu kämpfen haben.
Schulung von Gesundheitslots­innen von Maa Feew in Podor, Senegal. Forward For Women Schulung von Gesundheitslots­innen von Maa Feew in Podor, Senegal.

Sie engagieren sich mit Ihrem Verein Forward for Women gegen FGM. Mit welchen Problemen kommen die betroffenen Mädchen und Frauen hauptsächlich zu Ihnen?
Den Frauen geht es nicht so sehr um Klagen und Mitleid über das, was ihnen widerfahren ist, sondern um ganz praktische Fragen. Die Mädchen wollen wissen, was sie erwartet, ob sie normal Sexualität erfahren können, ob sie normal Kinder bekommen können oder auch, ob man etwas gegen die Verstümmelung unternehmen kann. Es gibt neuerdings tatsächlich die Möglichkeit, die weiblichen Genitalien operativ zu rekonstruieren.

Wie können Sie helfen?
Das ist in jedem Fall eine individuelle Angelegenheit, da gibt es keine Standardlösung. Wenn ein medizinisches Problem wie Schmerzen vorliegt, ist es klar, dann schicke ich sie zu Ärzten, die mit dem Thema FGM etwas anfangen können. Aber jede Frau lebt mit FGM anders. Es geht vor allem um den Austausch von Erfahrungen. Als von FGM betroffene schwarze Frau bin ich eine ganz andere Ansprechpartnerin als eine weiße, blonde Frau. Ich muss herausfinden, was das Ziel der Beratung sein soll. Ich habe nicht die Lösung parat, sondern helfe Betroffenen, eine Lösung zu finden. In meiner Beratungsarbeit geht es auch sehr viel um Empowerment von migrantischen Frauen.

Sind die Mädchen in ihren Heimatländern beschnitten worden oder gibt es gar in Deutschland Fälle von Beschneidungen?
Die meisten Mädchen sind Flüchtlinge oder Migrantinnen, die in ihren Heimatländern beschnitten wurden. Wir wissen nicht, ob FGM in Deutschland praktiziert wird, es gibt aber Verdachtsfälle. Bislang konnten wir aber nichts nachweisen. Kurz vor der Corona-Pandemie haben mich Verantwortliche einer Kinderkrippe für unter Dreijährige in Frankfurt angesprochen. Sie hatten den Verdacht, ein Kleinkind könnte beschnitten worden sein. Das ist gerade für Laien oft nicht eindeutig zu sehen.

Was konnten Sie beitragen?
Zuerst einmal war es gut, dass die Kita nicht direkt die Eltern angesprochen hat und diese womöglich falsch beschuldigt hätte. Oft ist das Personal in pädagogischen Einrichtungen nicht kultursensibel genug. Wir wollen, dass das anders wird, und stehen Einrichtungen mit Rat und Tat zur Seite. Im Fall der Frankfurter Kita habe ich mich mit dem Personal getroffen und über den Fall des kleinen Mädchens gesprochen. Geplant war ein gemeinsames Gespräch mit den Eltern, um die Lage richtig einzuschätzen. Dazu ist es aber wegen der Pandemie nicht mehr gekommen und ich weiß nicht, wie der Fall weiter verlaufen ist. Wenn die Eltern kooperativ sind, ist es sinnvoll, gemeinsam zu einem Arzt zu gehen, um das Kind untersuchen zu lassen. Wenn die Eltern aber unkooperativ sind und es auch Beschneidung wäre, würden wir das Jugendamt einschalten.

Sie sind selbst von FGM betroffen. Für uns als Deutsche klingt das wie ein furchtbarer Gewaltakt an einem Kind. Sind Sie Ihren ­Eltern böse, dass sie Ihnen das angetan haben?
Das sind Fragen, die sich mir nicht gestellt haben. Ich kann nicht sagen, dass ich deshalb wütend oder sauer auf meine Eltern bin. FGM gehört in einigen Regionen zur Tradition und zum gesellschaftlichen Konsens. Jeder macht das. Ich war ungefähr fünf Jahre, als sie mich beschnitten haben. Ich habe keine genaue Erinnerung mehr daran. Es hat sicher sehr weh getan. Aber die Bedeutung von Schmerz ist in jedem Kulturkreis anders. Wir haben die Beschneidung als eine Etappe des Lebens betrachtet, die man durchmacht, wie Heiraten oder Kinderkriegen, und wir haben es akzeptiert, dass es so ist. Unser Ziel ist es nun, den Menschen, die denken, FGM gehöre zur Kultur, klarzumachen, dass ein anderes Leben möglich ist.

Und wie machen Sie das?
Wir verstehen uns vor allem als Beratungsangebot. Ganz wichtig ist erst mal, jede Person, die zu mir kommt, so anzunehmen, wie sie ist. Ich frage zuerst, was die Beweggründe der Frau sind: Was möchte sie ändern, wie möchte sie weitermachen, was sind ihre Ziele? Und ich verurteile niemanden. Man darf FGM und andere Gewalt nicht isoliert betrachten, sondern im Kontext. Sie hängt mit vielen gesellschaftlichen Gegebenheiten und Umständen zusammen. Das waren früher vielleicht zum Teil Rituale, die das Überleben sicherten. Diese Zusammenhänge will ich aufzeigen und hinterfragen. In unsere Beratung beziehen wir auch Männer ein, denn nur wenn wir sie mit im Boot haben, können wir an dieser schädlichen Praxis gesamtgesellschaftlich etwas ändern. Vor Corona hatten wir auch Gruppentreffen und Beratung vor Ort, aber derzeit läuft noch alles über das Telefon.

Haben sich durch Corona die Themen Ihrer Beratung geändert?
Ja, es ist auffallend, dass viele Frauen oder auch Familien zu uns kommen, weil ihre Kinder in der Schule rassistische Gewalt und Diskriminierung erleben. Vermutlich hat es auch mit der Black-Lives-Matter-Bewegung zu tun. Kinder fühlen sich zunehmend von ihren Lehrern diskriminiert und benachteiligt. Das kommt jetzt wohl stärker raus, weil viele Kinder in Corona­zeiten mit Homeschooling Defizite aufgebaut haben und den schwarzen Kindern am wenigsten zugetraut wird. Wenn Kinder sich diskriminiert fühlen und dies auch kommunizieren, sind Lehrer und Schule oft hilflos und sogar in einer Abwehrhaltung. Die Lehrer sind nicht in der Lage, mit Alltagsrassismus umzugehen, und die Schule auch nicht. Die Kinder werden häufig alleingelassen, und auch viele Eltern sind frustriert und hilflos.

Wie kann das Problem Ihrer Meinung nach angegangen werden?
Es gibt strukturellen Rassismus in der deutschen Gesellschaft. Das ist aber noch nicht wirklich im Bewusstsein der Menschen angekommen. Schulen und Lehrer sind mit dem Thema alleingelassen und überfordert – sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Es gibt keine Schulungen oder Workshops, um das Thema zu bearbeiten. Am besten wäre es, wenn es Antidiskriminierungskurse und Trainings in der Schule selbst geben würde.

Was raten Sie betroffenen Eltern?
Vor allem, dass sie das Gespräch mit Lehrern und Schule und mit anderen Eltern suchen, zum Beispiel am Elternabend, und dort die Probleme ansprechen. Wir versuchen Eltern und Kinder zu stärken und zu befähigen, das Problem anzugehen. Es wird in keinem Fall eine Patentlösung geben. Leider habe ich mit meinen drei Kindern in Schulen auch schon sehr viel Diskriminierung erfahren. Wenn es Probleme oder Missverständnisse gab, waren immer meine Kinder schuld oder wurden als störend empfunden, wenn sie sich vermeintlich nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechend verhalten haben. Meine Erfahrung zeigt aber auch, dass Lehrer dann meist positiver und offener waren, wenn sie mich persönlich kennengelernt haben.

Noch ein anderes Thema: Sie engagieren sich auch in Ihrem Herkunftsland im Senegal. Welche Projekte sind das?
Auch hier geht es hauptsächlich um die Förderung von Mädchen und Frauen. Mir persönlich liegt vor allem unser Gesundheits- und Bildungsprojekt Maa Feew am Herzen, das zum Teil auch vom CIM (Centrum für internationale Migration und Entwicklung) der GIZ gefördert wird. „Maa Feew“ bedeutet in der Landessprache Fulani „Alles wird gut“. Wir führen es in Podor durch, einer Stadt im Norden des Senegal, in der ich geboren wurde. Das Projekt beinhaltet die Unterstützung für eine Geburtsstation, den Bau von Schultoiletten und den Bau einer Bücherei. Die Geburtsstation ist besonders wichtig, weil es in Podor Genitalverstümmlung sowie Früh- und Zwangsverheiratung gibt und es dadurch bei Geburten häufig zu Problemen kommt. Wir konnten mit Unterstützung des Arbeiter-Samariter-Bunds Hessen einen Krankenwagen für die Geburtsstation organisieren. Damit werden monatlich rund 70 Frauen vom Krankenhaus in Podor in die 400 Kilometer entfernte Hauptstadt Dakar transportiert, wo sie bei schwierigeren Geburten oder Krankheiten besser versorgt werden können. In der Schule, die wir unterstützen, war mein Großvater Direktor. Der Toilettenbau beziehungsweise die Renovierung ist noch nicht abgeschlossen, genauso wie der Aufbau der Bücherei. Es fehlt noch an Spendengeldern – das gilt leider auch für weitere Projekte.

Welche Projekte sind das?
Wir würden sehr gern ein Mädchenhaus in Podor errichten, wo Mädchen, die beschnitten, zwangsverheiratet sind oder denen andere Gewalt angetan wurde, Zuflucht, Gesundheitsversorgung und Unterstützung bekommen. Ein weiteres wichtiges Ziel wäre es, zwei Fahrzeuge zu bekommen, um Gesundheitsberatung und -versorgung in und um Podor herum anbieten zu können. So eine ambulante Beratung ist für viele Mädchen und Frauen die einzige Versorgung, die sie erhalten können. Sie wird von Frauen – traditionellen Gesundheitslotsinnen – durchgeführt, die dafür geschult wurden. Wir hoffen sehr, dass wir bald die nötigen Spenden bekommen, um diese Projekte umsetzen zu können.


Mariame Racine Sow arbeitet hauptamtlich als Sozialberaterin in einer Flüchtlingsunterkunft des Arbeiter-Samariter-Bunds in Frankfurt. In ihrem Verein Forward for Women engagiert sie sich ehrenamtlich.
mariame.sow@forwardforwomen.org
https://forwardforwomen.org/