Flüchtlinge im Libanon
Rechtlosigkeit und Armut
Mit Feuerwerk und Freudenschüssen feierten Libanesen Ende Januar die Bildung der neuen Regierung. Mehr als acht Monate politischer Krise waren überwunden. Die Menschen im Land schöpften Hoffnung, dass sich dieser Schritt positiv auf die Wirtschaftslage auswirken würde. Die Syrer im Libanon hatten dagegen weniger Grund zum Feiern. Der neue Minister für Flüchtlingsangelegenheiten Saleh Gharib gehört zu jener Fraktion in der libanesischen Regierung, die loyal zum syrischen Präsidenten Bashar al-Assad steht.
So war auch die erste Amtshandlung des Ministers nicht etwa der Besuch eines der vielen informellen Camps für syrische Flüchtlinge, sondern eine Stippvisite in Damaskus. Dort schloss er sich den offiziellen syrischen Verlautbarungen an, in denen es heißt, dass Syrien nun sicher sei und alle zurückkehren könnten. Dieser Besuch hat Unruhe unter den Flüchtlingen verursacht. Die Angst ist groß, dass es zu Zwangsrückführungen kommen könnte.
Seit dem Beginn der Auseinandersetzungen zwischen dem syrischen Regime und bewaffneten Oppositionsgruppen 2011 mussten Millionen Menschen ihre Heimat verlassen. Über 5 Millionen Syrer überquerten die Grenze in die Nachbarländer, vor allem die Türkei, Jordanien und den Libanon. Ungefähr eine Million syrische Flüchtlinge sind beim UN-Flüchtlingshilfswerk im Libanon registriert (947 000 Stand Januar 2019). Hinzu kommt eine unbekannte Zahl an nichtregistrierten Syrern. So sind etwa 20 Prozent der Bevölkerung im Libanon Syrer. Die meisten Menschen, die vor dem Krieg geflohen sind, haben sich in den Grenzgebieten im Norden und Osten des Landes niedergelassen. Diese Gebiete gehören zu den ärmsten Regionen des Libanons.
Nasser Yassin vom Issam Fares Institute for Public Policy and International Affairs an der Amerikanischen Universität in Beirut (AUB) beschreibt die Situation sowohl in der libanesischen Aufnahmegesellschaft als auch bei den syrischen Flüchtlingen im Libanon als einen „Zustand der Erschöpfung“. Ungefähr 70 Prozent der Syrer leben unterhalb der Armutsgrenze in menschenunwürdigen Zuständen (siehe dazu auch meinen Beitrag im Schwerpunkt im E+Z/D+C e-Paper 2017/05). Über die Hälfte der syrischen Kinder im Alter zwischen drei und 18 Jahren gehen nicht zur Schule. Die Mehrheit der Libanesen, die in den Gebieten leben, in denen Syrer sich aufhalten, machen die Flüchtlinge für Engpässe bei der Strom- und Wasserversorgung verantwortlich. Proteste von Libanesen gegen syrische Geschäfte, weil sie ihnen mit niedrigen Preisen die Kunden wegschnappen, sind keine Seltenheit.
Für diese Situation gebe es mehrere Gründe, erläutert Yassin. Das Ausmaß der Einwanderung sei einfach zu groß für den Libanon. Der Zedernstaat ist ein politisch fragiles Land, das seine bewaffneten Konflikte der vergangenen Jahrzehnte noch nicht aufgearbeitet hat – von den innenpolitischen Spannungen ganz zu schweigen. Hinzu kommt der desolate Zustand der Infrastruktur. Das Verhältnis zwischen Libanesen und syrischen Flüchtlingen wird laut dem Wissenschaftler auch stark von den früheren Erfahrungen der Libanesen mit den palästinensischen Flüchtlingen im Land beeinflusst. „Im kollektiven Gedächtnis vieler Libanesen hat sich eine negative Grundeinstellung gegenüber Flüchtlingen festgesetzt“, sagt Yassin. Eine Rolle spiele auch der Rückgang der internationalen Solidarität in der Welt. Der Aufstieg der populistischen rechten Bewegungen in den Ländern des globalen Nordens habe die Haltung dieser Länder zu Flüchtlingen verändert. Die Bereitschaft, Menschen auf der Flucht aufzunehmen, sei zurückgegangen.
Fehlende politische Strategie
Diese Faktoren werden noch verstärkt durch das Fehlen einer klaren und durchdachten Strategie und Haltung des libanesischen Staates: „Jede Gruppe oder lokale Macht im Land strickt an ihrer eigenen Politik gegenüber den syrischen Flüchtlingen, je nach ihren politischen und populistischen Interessen“, sagt der Wissenschaftler.
Ein Rückblick auf die Vorgehensweise libanesischer Behörden mit den syrischen Flüchtlingen in den vergangenen Jahren bestätigt die Analyse von Nasser Yassin. Bis Anfang 2015 konnten Syrer ohne Visa in den Libanon einreisen. Das war Teil einer sehr engen, aber nicht unproblematischen Beziehung der beiden Länder seit der Unabhängigkeit beider Staaten. Die Flüchtlinge kamen legal über die Grenze, konnten sich frei über das ganze Land verteilen und sich beim UN-Flüchtlingshilfswerk registrieren. Immer wieder gab es Diskussionen und Pläne, Lager zu errichten. Die Menschen sollten zentral aufgenommen und versorgt werden. Konkret wurden diese Überlegungen nie. Angesichts der Erfahrungen des Libanon mit den Lagern der Palästinenser, die sich in dauerhafte Einrichtungen verwandelt haben, war diese Idee nie populär. Stattdessen führte das Innenministerium als eine Art Regulierung Einreisebeschränkungen ein, hohe Gebühren für die Verlängerung des Aufenthalt und das Kafala-System (Bürgschaft) für Syrer.
Flüchtlinge kamen trotzdem, aber fortan illegal über die grüne Grenze. Den meisten Syrern war es aus finanziellen Gründen nicht möglich, ihren Aufenthalt zu verlängern. Die Folgen sind katastrophal: Über 70 Prozent der Syrer im Zedernstaat haben keinen gültigen Aufenthaltsstatus. Sie müssen illegal arbeiten. Hunderttausend Menschen sind Opfer von Ausbeutung einheimischer Arbeitgeber und Schikanen der Sicherheitsbehörden.
Khalil Jebara, ehemaliger Berater des Innenministeriums, gibt zu, dass der illegale Status Hunderttausender Syrer im Land nicht im Interesse des Libanon sei, da er den Überblick und die Kontrolle über die Menschen, die sich auf seinem Territorium aufhalten, verliere. Aber der Staat sei unfähig, eine konstruktive Politik gegenüber den syrischen Flüchtlingen auszuarbeiten, weil jede der verschiedenen libanesischen politischen Kräfte, die auch in der Regierung vertreten ist, eine eigene Lesart der Krise in Syrien und somit des Umgangs mit den Flüchtlingen im Land hätte. Der Minimalkonsens aller Fraktionen ist: „Nein“ zum Tawtin, zur festen Ansiedlung der Flüchtlinge, Nein zum erleichterten Zugang zu Arbeit.
Nichtsyrische Flüchtlinge
Vergleicht man jedoch den Umgang des libanesischen Staates mit den Flüchtlingen aus Syrien mit der Politik gegenüber anderen Flüchtlingsgruppen im Land – Palästinenser, Iraker, oder auch ausländische Arbeiter aus asiatischen und afrikanischen Ländern –, dann ist die Wiederholung eines Musters erkennbar. Menschen werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt und entrechtet. Nizar Shaghiyeh, Rechtsanwalt und Chefredakteur von Legal Agenda, sieht darin die Produktion von Rechtlosigkeit und Armut. So lautet auch die Publikation der gleichnamigen Organisation, die die rechtlichen Entwicklungen im Libanon aufarbeitet. Ein Teil dieses Musters ist der starke Fokus auf den Sicherheitsaspekt. Alle Flüchtlinge werden als potenzielles Sicherheitsrisiko eingestuft.
Nach Angaben der United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) sind im Libanon 422 000 palästinensische Flüchtlinge registriert. Die tatsächliche Zahl der Palästinenser ist allerdings viel niedriger – ungefähr 170 000, wie eine Zählung aus dem Jahr 2017 zeigt.
Es sind Nachfahren der Menschen, die bei der Staatsgründung Israels und während der Kriege 1948 und 1967 ihr Land verlassen und in den Nachbarländern Zuflucht finden mussten. Viele Palästinenser leben in den Lagern von damals, die sich in den vergangenen Jahrzehnten zu Stadtteilen entwickelt haben, oft auch zu Slums.
Obwohl die Palästinenser seit Generationen im Libanon leben, verwehrt ihnen der Staat viele Rechte. Viele Berufe, besonders die besserqualifizierten, dürfen sie nicht ausüben. Eigentum außerhalb der Lager zu erwerben ist verboten. Die staatliche Sozial- und Krankenversicherung bleiben ihnen weitgehend verschlossen. Palästinensische Kinder sind von staatlichen libanesischen Schulen ausgeschlossen (siehe hierzu auch meinen Beitrag im Schwerpunkt des E+Z/D+C e-Papers 2017/01). Bei der staatlichen Universität werden sie wie Ausländer behandelt und unterliegen einer Quote. Mit dieser Politik versuchen libanesische Regierungen seit Jahrzehnten das sogenannte Tawtin, die feste Ansiedlung der Palästinenser im Libanon, zu verhindern.
Die Folge dieser Diskriminierung ist sozialer Abstieg und Armut. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO hat in einer Studie 2012 festgestellt, dass die Hälfte der Palästinenser im Libanon nicht mehr als 333 Dollar monatlich verdienen. Laut dem Kinderhilfswerk UNICEF besuchen 96 Prozent der sechs- bis elfjährigen palästinensischen Jungen und Mädchen eine Schule. Im Alter von 12 bis 14 sind es nur noch 63 Prozent und von 15 bis 17 nur noch 40 Prozent. Viele Jugendliche gehen arbeiten. Die einzige Möglichkeit für Palästinenser, ein besseres Leben zu führen, ist die Auswanderung in andere Länder. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass ihre Zahl im Libanon stetig abnimmt. Die Rückkehr nach Palästina bleibt eine Utopie.
Anders ist die Situation für die Syrer. Die Heimat ist zugänglich, allerdings fehlen die Voraussetzungen für eine freiwillige, sichere und würdige Rückkehr, auch wenn in vielen Landesteilen keine Kriegshandlungen mehr stattfinden. Ob und wann diese Voraussetzungen erfüllt sein werden, hängt vom politischen Prozess in Syrien ab. Derweil wächst die nächste Generation an jungen Syrern im Libanon auf.
Nasser Yassin von der AUB nimmt die reichen Länder des Nordens in die Pflicht. Er fordert sie auf, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, um die Last des Libanons erträglicher zu machen und den Menschen eine Perspektive zu geben.
Mona Naggar ist Journalistin und Trainerin. Sie lebt in Beirut, Libanon.
mona.naggar@googlemail.com