Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Buen Vivir

Das gute Leben

In den Andenländern Lateinamerikas ist das Prinzip des Buen Vivir oder Sumak Kawsay (übersetzt etwa: gutes Leben, Leben in Harmonie) als Alternative zur westlichen Entwicklungsvorstellung entstanden. Dieses leitet sich aus der Weltanschauung der indigenen Völker ab und zielt, vereinfacht dargestellt, auf materielle, soziale und spirituelle Zufriedenheit für alle Mitglieder der Gemeinschaft, jedoch nicht auf Kosten anderer und der natürlichen Lebensgrundlagen. Die Regierung des linksgerichteten Präsidenten Rafael Correa in Ecuador machte Buen Vivir 2008 mit einer neuen Verfassung sogar zur Staatspolitik. Heute hat das Konzept an Bedeutung verloren.
Indigene Gemeinde in Ecuador beim gemeinsamen Mahl. Florian Kopp/Lineair Indigene Gemeinde in Ecuador beim gemeinsamen Mahl.

In den staatlichen Entwicklungsplänen (von 2009 bis 2013 und 2013 bis 2017) waren die indigenen Völker weitgehend abwesend. Sie dienten allein der Symbolik und der Legitimation der Regierungspolitik. Es gab zwar überall den Hinweis, dass das Buen Vivir indigenen Ursprungs sei, doch die konkreten indigenen Inhalte wurden nie erläutert. Dabei sind Varianten des Buen Vivir in den Texten der Indigenenbewegung seit den 1930er Jahren nachweisbar. Seit den 1980er Jahren verbanden die Indigenenaktivisten das Buen Vivir auch mit Forderungen nach territorialer Autonomie innerhalb des plurinationalen Staates.

Mitverursacht durch diese Widersprüchlichkeiten trennten sich nach der Verfassung von 2008 drei Hauptlinien des Buen Vivir:

  1. die indigene, die sich auf Autonomie und Selbstbestimmung bezieht,
  2. die staatliche, die auf inklusive Entwicklung und Menschenrechte ausgerichtet ist, und
  3. die wachstums- und entwicklungskritische um Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta und einige andere, die Erdölförderung ablehnen.

Diese drei Richtungen entwickelten sich unterschiedlich, standen jedoch in stetem Kontakt miteinander.

Die indigene Version des Buen Vivir hat die klarste Definition und längste Entwicklung. Erste Formulierungen des Konzepts waren seit den 1930ern auf eine Politisierung der indigenen Identität ausgerichtet, wie der kürzlich verstorbene Aktivist Benjamín Inuca nachgewiesen hat. Seit den 1990ern fordern Indigene territoriale Autonomie, Plurinationalität und Interkulturalität. In diesem Sinne entspricht das indigene Buen Vivir einer selbstbestimmten, lokalen Entwicklung, die kulturelle Eigenheiten respektiert und von der Zivilgesellschaft und den Organisationen vor Ort – und nicht dem Staat – ausgeht. Daher wird die Ausbeutung von Bodenschätzen tendenziell abgelehnt.

Im Zuge der Proteste von Oktober 2019 gegen die Regierung, an dem sich auch 20 000 Angehörige der indigenen Völker beteiligten, wurde der Begriff nur selten verwendet. Stattdessen wurden andere Begriffe bevorzugt, etwa die Plurinationalität oder das Kawsay Sacha (etwa: lebender Urwald), das von der Sarayaku-Kichwa-Aktivistin Patricia Gualinga auch international verbreitet wird.


Politische Aufbruchsstimmung

Die staatliche Interpretation des Buen Vivir hat ihren Ursprung in der politischen Aufbruchsstimmung, die mit der Regierung von Rafael Correa und der Verfassungsgebenden Versammlung ab 2007 einsetzte. Die Regierungspartei Alianza PAIS verstand sich als linke Sammelbewegung. Die Verfassung und die frühe Regierungspolitik integrierten daher verschiedenste Positionen. Darunter war auch eine entwicklungskritische Strömung um den Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta, den bekanntesten Verteidiger des Buen Vivir weltweit.

Der Kern der staatlichen Fassung ist eine inkludierende und Ungleichheiten abbauende Entwicklung, die Erdöl und Bergbau nachhaltig nutzt und vor allem von den staatlichen Akteuren selbst vorangetrieben werden sollte. Der Staat wird dabei als einheitlich und zentralisiert aufgefasst, weiter gehende Autonomien oder lokale Eigenständigkeiten werden also ausgeschlossen. Der Versuch René Ramírez’ 2009 und 2010, als Vorsitzender der staatlichen Planungsbehörde einen Sozialismus des Buen Vivir zu definieren, gelang nicht, unter seinen Nachfolgern verlor der Begriff seine Zentralität. Correas Nachfolger seit 2017, Lenín Moreno, hat die Präsenz des Buen Vivir drastisch reduziert: Der aktuelle Entwicklungsplan (2017-2021) trägt den Begriff nicht mehr im Namen, das –nur symbolisch bedeutende – Sekretariat des Buen Vivir wurde geschlossen. „Gutes Leben“ ist seitdem nicht mehr Regierungspolitik.

Die Krise des staatlichen Buen Vivir begann um das Jahr 2013. In Ecuador trat Correa in diesem Jahr seine dritte Präsidentschaft an, die von wirtschaftlichen Schwierigkeiten und einem zunehmend autoritären Politikstil geprägt war. Im selben Jahr beendete er offiziell das Yasuní-ITT-Projekt wegen mangelnder internationaler Unterstützung. Yasuní-ITT war der von Acosta mit entwickelte Versuch, ein großes Naturschutzgebiet in der Amazonasregion von der Erdölförderung auszunehmen. Für den Verzicht Ecuadors auf die Exporteinnahmen sollten Industrienationen Kompensationszahlungen leisten. Dies wurde sogar im Bundestag diskutiert, bis die Unterstützung von Yasuní-ITT 2010 auf Druck des damaligen Entwicklungsministers Dirk Niebel fallengelassen wurde. Das Ende dieses einmaligen Projekts bedeutete auch den Verlust eines wichtigen Standbeins des Buen Vivir auf internationaler Ebene.

Nachdem die entwicklungskritische Strömung um Acosta noch 2008 mit der Regierung gebrochen hatte, endete der Einfluss dieser Gruppe auf die Regierung und das staatliche Buen Vivir verlor an Unterstützung. Acosta trieb das Konzept auf eigene Faust weiter und wurde international sehr aktiv. Er verbreitete ab 2009 auch in englisch- und deutschsprachigen Texten seine Version des Buen Vivir und war auf Konferenzen und mit Vorträgen sehr präsent. In seiner Fassung ist das Buen Vivir ein offenes und unabgeschlossenes Projekt, das zwar von indigenen Kulturen inspiriert ist, aber im Rahmen einer harmonischen Beziehung mit der Natur recht frei interpretiert werden kann.

Diese Strömung lehnt industrielle Entwicklung, Erdölförderung und Bergbau ab. Sie war mit dem Yasuní-ITT-Projekt und mit Debatten um Klimagerechtigkeit, Postwachstum und Entwicklungskritik verbunden. In diesem Zusammenhang wurden ihre Forderungen auch in anderen Ländern aufgegriffen, etwa 2015 in einer Rede des damaligen französischen Präsidenten François Hollande. Ebenso wurden sie auf internationaler Ebene, bei Klimakonferenzen und in den UN diskutiert. Heutzutage ist sie in verschiedene institutionelle Zusammenhänge integriert, etwa die von der UNESCO geförderte Global Citizenship Education.

Ein letzter Höhepunkt der Acosta-Strömung war die Degrowth-Konferenz 2014 in Leipzig. Auf dieser Konferenz, einem Treffpunkt zwischen Wissenschaft und sozialen Bewegungen um Fragen der Entwicklungs- und Wachstumskritik, war das Buen Vivir prominent vertreten. Spätere Versuche, etwa die USA-Reise des Sarayaku-Indigenen Franco Viteri 2015 oder die andauernden Reisen, die Acosta mit Grupo Sal durch Deutschland macht, konnten keine größere Wirkung mehr entfalten.


Keine vollkommene konzeptionelle Trennung

Während die drei Strömungen unterschiedliche Ausrichtungen und Grundlagen haben, sind sie jedoch nicht vollkommen getrennt. Es gibt eine Reihe von Synergien, etwa die Zusammenarbeit aller drei Strömungen im Kampf für das Yasuní-ITT- Projekt. Ebenso gibt es unterschwellige Akzeptanz, vor allem zwischen der Version der Indigenenbewegung und der entwicklungskritischen Version. Die Konflikte entwickelten sich vor allem um die Frage der Rolle des Staates: Während die Indigenenbewegung den europäisch geprägten Staat ablehnt und die Entwicklungskritiker ihre Hoffnungen tendenziell auf spontane lokale Kooperationen setzten, verstand der Staat das Buen Vivir als eine konkrete Form von Politik.

Das Buen Vivir war ein neuartiger Begriff, der Verbindungen mit verschiedenen Diskursen herstellen konnte. In seiner Hochphase zwischen 2009 und 2013 war er Plattform für eine Reihe interessanter Initiativen. In den Jahren danach wurde er aber als Regierungspolitik zugunsten traditionellerer Ansätze verdrängt und verlor seine Anziehungskraft für die Wissenschaft und soziale Bewegungen. Das Buen Vivir selbst hat viel von seiner Relevanz verloren – aber Kämpfe möglich gemacht, die es so sonst nicht gegeben hätte.


Philipp Altmann ist Professor für Soziologische Theorie an der Zentraluniversität von Ecuador in Quito.
philippaltmann@gmx.de