Leben auf dem Land
Unser Erbe erhalten
Im November 2015 veranstalteten die Universitäten von Oslo und Tromsø ein wichtiges Symposium. Der Titel war „Glaube, Wissenschaft und Kulturerbe: Paul Olaf Bodding und die Schaffung eines skandinavisch-santalischen Erbes“. Bodding war ein lutherischer Missionar aus Norwegen, der von 1890 bis 1934 im heutigen indischen Bundesstaat Jharkhand bei den Santal lebte.
Bodding schrieb hunderte Sagen und Lieder der Santal auf, arbeitete an einem Santali-Wörterbuch und machte religiöse Literatur in dieser Sprache zugänglich. Zudem sammelte er mehr als dreitausend ethnographische Objekte dieser Volksgruppe. All das befindet sich heute in Norwegen, Dänemark und den USA, vor allem aber im Museum für Kulturgeschichte der Universität Oslo.
Eigentlich haben die christlichen Missionare im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die Kultur der Santal nicht sehr geschätzt. In dem Maße, in dem sie versuchten, Stammesleute zu ihrem Glauben zu konvertieren, versuchten sie auch deren kulturelles Erbe zu zerstören (siehe Kasten). Deshalb ist es kein Zufall, dass die von Bodding gesammelten Artefakte in Europa und Amerika liegen. Inzwischen werden sie allerdings geschätzt – und das ist wichtig. Wir sind froh über jegliche internationale Anerkennung unserer Kultur und über Unterstützung beim Schutz unseres Erbes.
Zu dem Symposium kamen Wissenschaftler, Sozialaktivisten, Mitarbeiter von Behörden – einschließlich der Botschaften von Frankreich, Dänemark und Japan – sowie Vertreter von Santal-Dörfern in Indien und Bangladesch. Ich selbst nahm als Vertreter des Museums für Santal-Kultur teil, das unsere Gemeindeorganisation in Bishnubati, einem Santal-Dorf in Westbengalen, mit Unterstützung des berühmten Indian Museum in Kolkata aufgebaut hat.
Unser eigenes Museum
Wir Santal haben unsere Geschichte nicht selbst niedergeschrieben. Unsere Kultur – Mythen, Lieder, Volksmärchen, Tänze – ist uns von unseren Vorfahren mündlich überliefert worden. Die verschriftlichte Geschichte von Stammeskulturen ist oft das Werk der dominanten Volksgruppen der Gesellschaft. In der Regelschule erfahren unsere Kinder vom Leben der großen Persönlichkeiten und Herrscher des Landes, unsere Geschichte aber wird nicht erwähnt. Dabei sollten wir auch unsere eigenen Helden und Heldinnen kennen. Es schafft Selbstachtung und Selbstvertrauen, wenn man über Talente und große Persönlichkeiten des eigenen Volkes Bescheid weiß. Das sind Gründe, warum wir in unserem Dorf ein Museum aufgebaut haben, das sich der Geschichte und Kultur der Santal widmet.
Anfangs waren die Dorfbewohner – und auch einige gebildete Santal – skeptisch. Manche sagten, man solle die „Rückständigkeit“ des Santal-Lebens nicht auch noch feiern. Wir konnten sie aber davon überzeugen, dass es sinnvoll ist, Gegenstände wie Musikinstrumente, Schmuck und Werkzeuge, die unsere Vorfahren nutzten, auszustellen. Diese Dinge erzählen uns von unserer Vergangenheit und dem Erfindergeist, der Intelligenz und Tiefsinnigkeit unserer Vorfahren. Wir verherrlichen nicht veraltete Artefakte, sondern zeigen, wie das Leben war.
Wir wollen unseren Kindern Wissen über unsere reiche Kultur vermitteln, weil diese kulturellen Wurzeln ihnen in der modernen Welt Halt geben können. Wir wollen nicht die Santal-Mentalität aufgeben müssen, um uns an eine Welt im Wandel anzupassen.
Die Gemeinde hat das Museum aufgebaut und betreibt es auch. Alle Familien beteiligen sich daran. Die meisten Exponate steuerten Santal-Familien aus verschiedenen Dörfern in Westbengalen bei, wobei einige wertvollere Gegenstände, wie etwa Schmuck, zugekauft werden mussten.
Unser Museum gibt es nun seit acht Jahren und es ist offensichtlich, dass es das kulturelle Selbstvertrauen unserer Gemeinschaft stärkt. Unsere Nachbardörfer nutzen es zudem als Informationszentrum – es ist ermutigend zu sehen, dass sie sich für unsere Kultur interessieren.
Das formale Bildungssystem Indiens fördert bürgerliche Bestrebungen, ohne dabei viel Rücksicht auf die verschiedenen Gemeinschaften des Landes zu nehmen oder die bestehende Kluft zwischen ihnen zu überbrücken. Der Übergang von Tradition zu Moderne ist schwierig und oft schmerzhaft. Anpassen müssen wir uns auf jeden Fall, aber hilfreich sind die staatlichen Institutionen dabei nicht. Wir müssen unseren eigenen Weg finden.
Wenn wir unser Erbe nicht schützen, geht es verloren. Adivasi werden in Indien marginalisiert, aber unsere Kinder sollen nicht in dem Glauben aufwachsen, unsere Kultur sei minderwertig. Das Museum und unsere eigene nichtstaatliche Schule helfen ihnen, ihre Wurzeln zu verstehen.
Entwurzelte Menschen
Selbstverständlich ist es auch wichtig, andere Lebensformen kennenzulernen. Nach Abschluss der Schule arbeiten viele Jugendliche aus unserem Dorf andernorts, manchmal sogar in anderen indischen Bundesstaaten. Dennoch bleiben sie der Gemeinschaft und Kultur verbunden. Junge Santal hingegen, die in städtischen Gebieten aufgewachsen sind und unsere Sprache nicht gut sprechen, fühlen sich im späteren Leben oft entfremdet. Das gilt auch für gebildete Santal, die in Städten leben: Viele von ihnen artikulieren auf Blogs und in den sozialen Medien eine tiefe Sehnsucht nach einer kulturellen Identität.
Diese Sehnsucht kann bisweilen schädlich sein – zum Beispiel, wenn die Menschen unsere Kultur verklären oder diese für politische Zwecke der Radikalisierung benutzen. Beides hilft unserer Gemeinschaft nicht, die heutigen Herausforderungen zu bewältigen. Daher halten wir es für besser, von Anfang an mit unserem kulturellen Erbe verbunden zu sein und zu bleiben. Das ist für uns Santal, anders als für die Mitglieder privilegierter Kasten in Indien, nicht selbstverständlich.
Boro Baski arbeitet für die Gemeindeorganisation Ghosaldanga Adibasi Seva Sangha in West-Bengalen. Die Nichtregierungsorganisation wird vom Freundeskreis Ghosaldanga und Bishnubati unterstützt.
borobaski@gmail.com