Verfassungsreferendum in Chile
Zweite Runde in Chiles Verfassungsprozess
Was wäre das für eine brillante Geschichte gewesen, hätten die Chilenen am 4. September dieses Jahres dem neuen Verfassungsentwurf zugestimmt. Die neue Verfassung sollte der krönende Abschluss eines seit Jahren andauernden Reformprozesses werden. Sozialer sollte sie sein, moderner, ökologischer.
Angefangen hat der Reformprozess mit der sozialen Revolte von 2019, die sich gegen Armut und soziale Ungleichheit richtete. 2020 sprachen sich dann in einem Referendum knapp 80 Prozent der Wähler für eine neue Verfassung aus. Die bisherige gilt seit 1980 und wurde von der Pinochet-Diktatur geprägt, die ihre marktliberale Orthodoxie und ihr autoritäres Amtsverständnis darin festschrieb. Im Mai 2021 wurde die verfassungsgebende Versammlung („Convención“) gewählt.
Im Dezember letzten Jahres gewann der linke Politiker Gabriel Boric die Präsidentschaftswahl und trat im März 2022 die Nachfolge des Konservativen Sebastián Piñera an der Staatsspitze an.
Im Sommer legte die Convención nun ihren Verfassungsentwurf vor. Er enthielt Rechtsansprüche auf Gesundheitsversorgung, Wohnraum, Bildung, Altersvorsorge, Internetzugang und saubere Luft. Er sah gesonderte Rechte für indigene Völker vor und versprach Natur- und Tierschutz. Beim Wahlvolk fiel er allerdings durch – über 60 Prozent stimmten dagegen.
Dafür gab es mehrere Gründe. Erstens war der Verfassungsentwurf sehr umfangreich und detailliert. Der Text umfasste ganze 388 Artikel und Bestimmungen zu einer Vielzahl von Themen – von ausgewogener Ernährung über Geschlechterparität in der Politik bis hin zur individuellen sexuellen Orientierung. Nicht alle Punkte waren konsensfähig.
Das nutzten die Gegner des Entwurfs in ihrer groß angelegten Gegenkampagne „Rechazo“ (Ablehnung). Falschmeldungen im Netz schürten Angst. Sie sagten Enteignungen voraus und warnten vor einer kommunistischen Diktatur. Doch auch unabhängig davon gingen vielen Stimmberechtigten manche Vorschläge zu weit. Nicht nur das Recht auf Abtreibung bleibt umstritten. Auch Änderungen am Staatsapparat wie die Auflösung des Senats standen in der Kritik.
Obendrein geriet die Convención selbst in die Kritik. Umfragen zeigen, dass viele Chilenen und Chileninnen angesichts diverser Skandale an ihrer Legitimität zweifelten. Rechtspopulistische Agitation verschärfte diese Skepsis.
Das Referendum geriet so zunehmend zur parteipolitischen Abstimmung. Die Opposition wetterte gegen den Entwurf, die Regierung stellte sich dahinter. Es war offensichtlich nicht gelungen, die Verfassungsreform von der Tages- und Parteipolitik zu lösen. Eine Verfassung aber ist kein parteipolitisches Programm. Sie soll vielmehr möglichst knapp und klar Grundwerte definieren sowie Grundregeln für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung festlegen. Was die Convención vorlegte, ähnelte dagegen zu sehr der parteipolitischen Programmatik der Linken.
Beendet ist der Verfassungsprozess in Chile damit nicht. Kurz nach dem Referendum einigte sich der Senat auf den weiteren Fahrplan, der mit der Wahl einer neuen verfassungsgebenden Versammlung beginnen wird.
Diese wird die Chance haben, es besser zu machen. Sie sollte weniger Wert auf detaillierte Bestimmungen legen, sondern darauf, dass mehr Bürger und Bürgerinnen sich vertreten fühlen. Ein beratendes Expertengremium soll die Glaubwürdigkeit der Beschlüsse erhöhen. Wichtig wird sein, dass die Opposition nicht wieder den ganzen Prozess diskreditiert.
Eva-Maria Verfürth ist freie Journalistin, Gründerin und Chefredakteurin des Onlinemagazins Tea after Twelve.
eva.verfuerth@gmail.com