Libanon
Tiefgreifende Veränderungen sind unausweichlich
Mit der Ausrufung des Ausnahmezustands hat die Regierung auf die verheerende Explosion am Beiruter Hafen am 4. August reagiert, die über 170 Todesopfer und tausende von Verletzten gefordert hat. Zahlreiche Stadtteile wurden zerstört. Die Menschen protestierten daraufhin gegen die an der Explosion politisch Verantwortlichen. Die Polizei ging brutal gegen die Demonstranten vor. Konstruktive Hilfe für die Opfer hat der libanesische Staat hingegen nicht geliefert. Die Menschen sind auf sich allein gestellt. Sie helfen sich gegenseitig. Ehrenamtliche räumen die Trümmer weg und versorgen die Bewohner der geschädigten Stadtteile.
Der Ausnahmezustand bedeutet eine weitere Demontage der in der Verfassung garantierten Grundrechte, wie Demonstrationsfreiheit oder freie Meinungsäußerung. Diese Entwicklung zeichnet sich seit einigen Monaten ab. Der libanesische Staat antwortet mit Repression auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch und auf die Proteste der Menschen. Sicherheitsorgane und Politiker versuchen immer mehr Medien und Bürgerjournalisten einzuschüchtern. Diese Reaktion ist besorgniserregend. Machterhalt scheint die einzige Sorge der Politiker und staatlichen Institutionen zu sein.
Mitte Oktober 2019 sah es noch so aus, als ob eine friedliche Revolution die korrupte politische Klasse zur Abdankung zwingen könnte. Direkter Anlass war der Plan der Regierung WhatsApp-Telefonate zu besteuern, um die klammen Staatskassen zu füllen. Tausende Menschen in allen Teilen des Landes gingen auf die Straße, schrien ihre Wut und ihre Forderungen heraus. In Zelten, die auf zentralen Plätzen in Beirut und anderen Städten aufgeschlagen wurden, debattierten Demonstranten, Akademiker und Aktivisten lokaler Nichtregierungsorganisationen über die Zukunft des Landes und verschiedene politische Modelle, die das konfessionelle System ablösen sollten.
Der multireligiöse Libanon ist seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1943 eine parlamentarische Demokratie mit stark konfessionellen Zügen. Die Parlamentssitze werden im Verhältnis der Anteile der Religionsgemeinschaften an der Gesamtbevölkerung verteilt. Die politisch-religiösen Führer, die dieses System hervorbrachte, sind mit Feudalherren vergleichbar. Sie verfügen über die Ressourcen, die der schwache Staat nicht hat, und fordern von ihrer Klientel im Gegenzug Loyalität. Dieses System zu reformieren war eines der Hauptforderungen der Demonstranten. Auf dem Höhepunkt der friedlichen Revolution machte sich immer mehr die Wirtschafts- und Bankenkrise bemerkbar, die schon lange rumorte. Die Corona-Pandemie verstärkt die Krise noch. Die euphorische Stimmung, die vor einigen Monaten herrschte, ist verflogen.
Die Demonstranten, die seit der Explosion voller Wut auf die Straßen gehen, fordern nicht mehr Reformen, sondern führen Galgen mit sich. Sie rufen nach Rache für die Opfer der Explosion und hängen symbolisch die Puppen führender Politiker auf. Der Ton wird radikaler und rauer.
Den bisherigen Libanon, in dem es stets irgendwie weiterging, gibt es nicht mehr. Die Explosion hat die Fassade endgültig zum Einsturz gebracht. Tiefgreifende Veränderungen und nicht nur Reformen sind nötig.
Auf die wichtigste Frage gibt es jedoch noch keine Antwort: Was kann anstelle des konfessionellen Systems treten? Eine Übergangszeit ist nötig, damit sich politische Kräfte formieren können, Menschen sich mobilisieren und Ideen entwickelt werden. Wie es weitergeht, liegt nicht nur an den Kräften im Libanon. Eine große Rolle spielen regionale und internationale Mächte. Zu hoffen ist, dass sie diesen besonderen Zeitpunkt für tiefgreifende Veränderungen erkennen, einen konstruktiven Einfluss ausüben und den Zedernstaat nicht als Nebenschauplatz für regionale Konflikte missbrauchen. Noch ist alles offen.
Mona Naggar ist Journalistin und Trainerin. Sie lebt in Beirut, Libanon.
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