Polio
Ende eines langen Kampfes
Rukhsar Khatoon hat in Indien traurige Berühmtheit erlangt. Sie ist der letzte dokumentierte Fall von Polio in dem südasiatischen Land. Das kleine Mädchen aus Westbengalen verkörpert Tragik und Erfolg zugleich. Tragik, weil sich Rukhsar noch im 21. Jahrhundert infiziert hat, obwohl es dazu nicht mehr hätte kommen müssen. Erfolg, weil dieses riesige Land mit seinen 1,2 Milliarden Menschen endlich poliofrei geworden ist.
Im März 2014 wurde Indien, nach drei Jahren ohne Neuinfektionen, von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als poliofrei zertifiziert. Die internationale Fachwelt preist das als großen Erfolg, denn viele hatten befürchtet, Indien würde das Ziel nie erreichen. Dagegen sprachen die Größe des Landes, Bevölkerungsdichte, Armutsrate und die hygienischen Verhältnisse.
Noch Anfang der 90er Jahre erkrankten dort Jahr für Jahr mehr als 100 000 Kinder – 2009 waren es dann „nur“ noch rund 700; und mit Rukhsar steht seit 2011 schließlich der letzte Name auf einer langen Liste, die für viele Menschen großes Leid bedeutete.
Polio ist eine Infektionskrankheit, die von Mensch zu Mensch übertragen wird. Meist gelangen die Viren wegen unzureichender Hygiene über Exkremente zum nächsten Opfer. Sie befallen Nervenzellen im Rückenmark und führen so zu bleibenden Lähmungen an Armen und Beinen, oft auch zum Tod. Betroffen sind überwiegend Kinder unter fünf Jahren.
Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Polio in den Industrieländern gefürchtet. Selbst der frühere US-Präsident Franklin D. Roosevelt litt unter Lähmung. Eine Behandlung für Infizierte gibt es nicht. Schutz bietet jedoch eine vorbeugende Impfung, wie sie die meisten Länder heute routinemäßig bei allen Kindern durchführen.
Nord- und Südamerika sind seit 1994 poliofrei, der westpazifische Raum seit dem Jahr 2000, Europa seit 2002. Polio kommt heute nur noch in Afghanistan, Pakistan und Nigeria regelmäßig vor – und bis vor kurzem auch in Indien.
Mitte der 90er Jahre beschloss das Land jedoch ein umfassendes „Polio-Bekämpfungsprogramm“ und versuchte, alle Kinder unter fünf Jahren zu immunisieren. Das geschah in landesweiten Kampagnen, die mehrmals im Jahr stattfanden und bei denen jeweils 2,4 Millionen Helfer bis in den hintersten Winkel des Landes zogen, um rund 170 Millionen Kinder zu impfen.
„Das indische Programm zur Bekämpfung von Polio ist vorbildlich“, sagt KfW-Projektmanagerin Gabriele Götz, „weil es konsequent die Impfkampagnen mit Aufklärungsmaßnahmen und einer landesweiten Überwachung verbunden hat.“ Mit dem „Acute Flaccid Paralysis Surveillance“ – so heißt das Überwachungssystem – können die Verantwortlichen jedem Verdacht von Neufällen nachspüren und in den betroffenen Gebieten schnell nachimpfen. Die KfW Entwicklungsbank hat Indiens Kampf gegen Polio seit 1996 unterstützt. Im Auftrag der Bundesregierung stellte sie mehr als 240 Millionen Euro bereit, die vor allem dazu dienten, den Impfstoff für viele Millionen Kinder zu finanzieren. „Wesentlich für den Erfolg Indiens waren das hohe Engagement des Landes, ein umfassendes Programm und die gute Zusammenarbeit der Geber“, sagt Gabriele Götz.
Für Indien geht es nun darum, das Erreichte zu bewahren. Solange aber die Krankheit nicht weltweit ausgerottet ist, besteht jederzeit die Gefahr eines Neuausbruchs. Deshalb hat Indien mittlerweile nicht nur begonnen, eine Routineimmunisierung flächendeckend einzuführen, sondern gibt seine Erfahrungen an die drei verbliebenen Polio-Länder Afghanistan, Nigeria und Pakistan weiter, um die Krankheit auch dort in absehbarer Zeit auszurotten. Erst dann ist sicher, dass Rukhsar Khatoon wirklich der letzte indische Name auf der Liste der Polio-Infizierten bleibt.
Friederike Bauer