Öffentliche Partizipation
Feldversuche
In China lebte 2011 jeder Zweite in der Stadt – 1978 war es noch jeder Fünfte. Seither strömten Millionen ehemaliger Bauern aus dem Hinterland in die heutigen Ballungsräume an der Küste. Die Reform- und Öffnungspolitik, die um 1980 begann, löste die vermutlich größte Binnenmigration der Menschheitsgeschichte aus. Die zuständigen Regierungs- und Verwaltungsinstanzen konnten das rasante Wachstum der Städte nicht steuern. Unkoordinierte Investitions- und Entwicklungsprojekte und informelle, häufig auch illegale Bebauung sind schon lange nicht mehr ungewöhnlich.
Die südchinesische Provinz Guangdong wurde als erste Region für Marktwirtschaft und internationale Investoren geöffnet. Im dortigen Perlflussdelta sind denn auch heute die negativen Begleiterscheinungen des Booms deutlich sichtbar: überlastete Verkehrsinfrastruktur, Mangel an Versorgungseinrichtungen, Umweltverschmutzung und Verfall ehemaliger Industrie- und Wohnviertel. Es gibt im Delta nur noch wenige landwirtschaftlich genutzte Flächen.
Für die Reformpolitik Chinas gilt das Perlflussdelta als wichtige Vorreiterregion. Die Zentralregierung übertrug den Lokalverwaltungen – und zwar nicht nur in den dortigen Sonderwirtschaftszonen – wichtige Entscheidungskompetenzen. Diese kommunalen Entscheidungsträger nutzten ihre neuen Gestaltungsspielräume für die Stadt- und Wirtschaftsentwicklung. Klare Zuständigkeiten wurden aber nicht definiert, so dass das politisch-administrative System bis in die untersten Ebenen hochkomplex und schwer durchschaubar bleibt.
Die Kommunalverwaltungen führen auf ihrem Territorium in Eigenregie wirtschaftspolitische Experimente durch. Reformen sind im chinesischen Transformationsprozess oft zunächst auf klar definierte Räume begrenzt, in denen sie erst getestet werden. Wenn sie sich bewähren, wird ihr Modell in anderen Regionen und später möglicherweise auch landesweit umgesetzt. Die Städte des Perlflussdeltas fungieren als Labore der nationalen Reformpolitik.
Zwischen den Städten herrscht dabei Konkurrenz. „Erfolgsgeheimnisse“ werden nicht gern mit anderen geteilt. Der Standortwettbewerb insbesondere um internationale Investoren wird derzeit schärfer und es kommt vor allem im Bereich der gemeinsamen Infrastrukturentwicklung zu Koordinationsproblemen. So bleiben bislang beispielsweise die Verkehrsverbindungen innerhalb des Deltas unterentwickelt. Die Planung behindert darüber hinaus, dass innerhalb einzelner Städte zahlreiche Akteure mit unterschiedlichen Interessen, aber teilweise überschneidenden Kompetenzen an Stadtentwicklung mitwirken.
Master- und Detailplanung
Erst 1989 wurde eine gesetzliche Grundlage für die Stadtplanung geschaffen. Diese sieht eine langfristige Masterplanung für bis zu 20 Jahre und eine in der Regel auf fünf Jahre angelegte Detailplanung vor. Der langfristige Planungszeitraum und die starren bürokratischen Genehmigungsverfahren erwiesen sich aber bald als inkompatibel mit der Dynamik des Wirtschafts- und Bevölkerungswachstums. Die alte planwirtschaftliche Praxis, dass Behörden Vorgaben für die Flächennutzung ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Unternehmen und der Bevölkerung machen, funktioniert vielerorts schon lange nicht mehr.
Heute setzen die Planungsbehörden nicht mehr Produktionsziele fest, sondern definieren Entwicklungsziele. Ressourcen werden nicht länger zentral zugewiesen, und die Vergabe von Land wird durch die Kommunalverwaltungen gesteuert. Partikularinteressen privater Unternehmen und staatlicher Organe setzen sich dabei aber oft gegen die formale Stadtplanung durch. Weil die Probleme schnell zunahmen, erlebt die Stadtplanung im Perlflussdelta in den letzten Jahren bemerkenswerte Innovationen. Seit den späten 90er Jahren wird mit neuen Planungsmodellen experimentiert.
Geburt der strategischen Stadtplanung
Im Sommer 2000 konsultierte das Guangzhou Municipal Planning Bureau Planungsinstitute von Hochschulen, um neue Strategien zu formulieren. Ohne die sonst üblichen strikten inhaltlichen, formalen und methodischen Vorgaben wurde so eine gesamtstädtische Vision für das Guangzhou des 21. Jahrhunderts entwickelt. Die Ergebnisse wurden noch im selben Jahr veröffentlicht und markierten die Geburt der strategischen Stadtplanung in China.
Unter dem Titel „Expansion im Süden, Optimierung im Norden, Fortschritt im Osten und Verbindung im Westen“ wurden Ziele definiert, die weiterhin gelten:
- „Expansion im Süden“ steht für die industrielle Erschließung der Stadtteile Panyu und Nansha. Rund um einen neuen Tiefwasserhafen, der derzeit entsteht, ist eine Gewerbezone vor allem für Schwer- und Chemieindustrie geplant.
- „Optimierung im Norden“ betont den Schutz der dortigen Trinkwasserreserven für die Stadt. Sie sieht aber auch weiteres urbanes Wachstum rund um den neuen internationalen Flughafen und den Ausbau der Infrastruktur vor.
- „Fortschritt im Osten“ bestätigt die Rolle des Guangzhou Development District als Hauptwachstumszentrum der Metropole. Hier sollen wissensbasierte Hightech-Unternehmen angesiedelt werden.
- „Verbindung im Westen“ bedeutet, die Nachbarstadt Foshan besser an Guangzhou anzubinden.
Die ökonomische Restrukturierung und Stadterneuerung geht dabei sehr weit. Ganze Stadtteile werden umgebaut. Eine neue funktional gegliederte Stadtstruktur soll die historisch gewachsene ersetzen. In der Umsetzung der Planung wird indessen auf detaillierte Vorgaben verzichtet, um flexibel agieren zu können.
Guangzhou will sich als wichtigstes politisches und wirtschaftliches Zentrum Südchinas behaupten. Sein Modell hat derweil Schule gemacht: Konzeptplanung wie in Guangzhou ist heute in allen größeren Städten Chinas üblich.
Bürgerbeteiligung
Auch in Shenzhen hat sich die Planung neuen Akteuren geöffnet: den Bürgern. Shenzhen genoss als erste Sonderwirtschaftszone lange Zeit Sonderrechte. Noch heute hat die Stadtregierung Gesetzgebungskompetenz. Deshalb konnte sie die sogenannte statutarische Planung (Statutory Planning) einführen, die das öffentliche Interesse an der Stadtplanung berücksichtigt und formal verabschiedete Pläne rechtlich verbindlich macht.
Shenzhen vermeidet so wesentliche Schwächen der chinesischen Stadtplanung:
- Die Planungshorizonte sind wesentlich kürzer; die Planung wird jährlich neu aufgelegt.
- Es herrscht Rechtssicherheit.
- Die Öffentlichkeit wird in den Planungsprozess einbezogen.
Planungsentwürfe liegen 30 Tage lang aus, sodass Einzelpersonen und Organisationen Änderungswünsche und Vorschläge einreichen können. Ein Stadtplanungskomitee, das als eigenständige Instanz eingerichtet wurde, prüft und bewilligt diese. Ihm gehören 29 Personen an, von denen höchstens 14 Beamte der Stadtregierung sein dürfen. Da Entscheidungen aber mit Zweidrittelmehrheit fallen, haben die Beamten eine Art Vetomacht.
Die Bürger engagierten sich aber zunächst kaum. Weil die Stadtregierung ihre Bedürfnisse verstehen wollte, suchte sie nach neuen Beteiligungsformen. Sie gründete ein Unternehmen („Public Power“), das standardisierte Meinungsumfragen durchführt – etwa über die Qualität der Schulen oder des öffentlichen Nahverkehrs. Mittlerweile sind die Bürger auch aktiver geworden und können über eine Internetplattform Vorschläge machen.
Die Stadtplanung in Shenzhen unterliegt zwar nicht demokratischer Kontrolle durch Wahlen, die Bürger sind aber eingeladen, sich mit Vorschlägen zu beteiligen. Die Stadtregierung ist ernsthaft am Informationsaustausch interessiert.
Dieses „passive“ Beteiligungsmodell gilt offenbar als Erfolg. Public Power arbeitet beispielsweise auch im Auftrag anderer Gebietskörperschaften in China, die solide Grundlagen für ihre Planung brauchen.
Ausblick
Neue Planungsmodelle haben in China zwar nicht die gesetzlich vorgeschriebene Master- und Detailplanung außer Kraft gesetzt; sie haben sie aber um neue Elemente ergänzt. Die Stadtplanung wird zunehmend professionalisiert und gewinnt Steuerungskapazitäten zurück, wobei Dinge wie Standortmarketing, Image und ökonomische Attraktivität immer mehr Beachtung finden.
Das Perlflussdelta bleibt ein Experimentierfeld der Stadtplanung und Stadtentwicklung in China. Die Behörden in Guangzhou und Shenzhen achten auf ihre Gestaltungsmacht. Sie bemühen sich, mehr über Bedürfnisse der Bevölkerung und der Wirtschaft zu erfahren. Was sich bewährt, wird früher oder später auch anderswo in China übernommen.
Christian Wuttke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Universität Bremen. Sein Buch „Die chinesische Stadt im Transformationsprozess“ beruht auf seiner Promotion an der Universität Osnabrück und erschien 2012 bei Edition Sigma in Berlin.
cwuttke@iaw.uni-bremen.de