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Chiles neuer Präsident steht vor großen Herausforderungen

Die Chilenen haben große Erwartungen an ihren neuen Präsident Gabriel Boric. Sie wollen einerseits grundlegende Reformen, andererseits aber auch Stabilität. Boric versucht, beides zu vereinen.
Im zweiten Wahlgang überzeugte Gabriel Boric 55,9 Prozent der Wähler. picture alliance / ZUMAPRESS.com / Matias Basualdo Im zweiten Wahlgang überzeugte Gabriel Boric 55,9 Prozent der Wähler.

Die Öffentlichkeit in Chile beobachtet den neu gewählten Präsidenten, den 35-jährigen Linken Gabriel Boric, mit großer Aufmerksamkeit. Seine Regierung wird am 11. März ihr Amt antreten. Der jüngste Präsident, den Chile je hatte, entwickelte sich vom Studentenführer zu einer Schlüsselfigur der politischen Erneuerung des Landes.

Nach dem Ende der Diktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) verfolgte Chile 30 Jahre lang eine marktradikale Politik. Dieser starre Ansatz wurde vom Militärregime übernommen und sogar in der Verfassung verankert. Im Oktober 2019 brachen heftige Proteste aus, die die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen dieser Politik anprangerten. Die Menschen forderten ein Ende des „30-jährigen Machtmissbrauchs“. Die Massen demonstrierten für eine egalitärere Gesellschaftsordnung.

Der Aufstand von 2019 führte zu einem beispiellosen Prozess der Verfassungsänderung. Es wurde eine neue verfassungsgebende Versammlung gewählt. Die etablierten Mitte-Links- und Rechtsparteien erlebten, wie ihre Unterstützung in der Bevölkerung auf einen noch nie dagewesenen Tiefstand fiel. Ganz offensichtlich wollte eine Mehrheit der Bürger einen Neuanfang (siehe meinen Beitrag auf www.dandc.eu)

Infolgedessen wurden zwei Außenseiter zu den Hauptanwärtern für die Präsidentschaftswahlen 2021:

  • der rechtsextreme José Antonio Kast, der eine Koalition aus Ultrakonservativen und Nationalisten vertrat, und
  • Boric, der von einem Bündnis linker Parteien einschließlich der Kommunisten unterstützt wurde.

In der ausländischen Presse wurden diese Blöcke als polare Gegensätze dargestellt. Die Wahrheit ist differenzierter: In seinem Werben um Wähler aus der Mitte zeigte Boric mehr Mut und Flexibilität als sein Gegner. Borics gemäßigter Ton erwies sich als entscheidend und führte zu seinem Sieg von rund 56 Prozent im zweiten Wahlgang im Dezember.

Seit seinem Sieg hat Boric signalisiert, dass er eine fein abgestimmte Kombination aus Erneuerung und Mäßigung anstrebt. Die Wahl seines Kabinetts ist interessant und aufschlussreich. Von den 24 Ministern sind 14 Frauen, acht sind Unabhängige und neun kommen von außerhalb der Hauptstadt – ein Novum im zentralistischen Chile.

Unter den Frauen sticht Izkia Siches (35) hervor. Sie ist Ärztin und ehemalige Präsidentin des chilenischen Ärzteverbandes. Außerdem ist sie indigener Aymara-Abstammung. Sie wird die erste Frau in diesem Amt sein, bei dem sie auch für die öffentliche Sicherheit zuständig ist. 

Camila Vallejo (33) wird Regierungssprecherin. Sie ist eine ehemalige Anführerin der aufständischen Studentenbewegung, die 2011 sozialen Fortschritt forderte. Antonia Urrejola (53) ist die ehemalige Präsidentin der Interamerikanischen Menschenrechtskommission und wird Außenministerin. Maya Fernández (50) soll Verteidigungsministerin werden. Sie ist Sozialistin und die Enkelin des ehemaligen Präsidenten Salvador Allende.

Mit der Wahl von Mario Marcel (62) zum Finanzminister setzte Boric ein klares Zeichen der Mäßigung. Er war bis vor kurzem Präsident der chilenischen Zentralbank und ist ein international angesehener Mann. Er ist unabhängig, wurde aber mit früheren Mitte-Links-Regierungen in Verbindung gebracht. Einige sehen in ihm jedoch eine Rückkehr zur marktwirtschaftlichen Orthodoxie, die Chile in soziale Unruhen gestürzt hat. Viele andere hingegen halten seine Ernennung für ein willkommenes Zeichen der Stabilität.

Boric sagt, dass der wirtschaftliche Aufschwung, die Bewältigung der Pandemie und der Schutz der Verfassungsreformen zu Beginn seine Prioritäten sein werden. Es wird erwartet, dass die verfassungsgebende Versammlung zwischen Juli und September dieses Jahres eine neue Magna Carta vorlegt. Das Dokument wird dann einer Volksabstimmung unterzogen.

Eine Ablehnung der neuen Verfassung und damit eine Rückkehr zur Verfassung der Diktatur würde für Boric eine dramatische Niederlage bedeuten. Sein Ziel ist es, ein neues Chile aufzubauen. Einige Analysten formulieren es so: Er will der letzte Präsident der alten Ära und der erste der neuen Ära sein.


Javier A. Cisterna Figueroa ist Journalist in Concepción, Chile.
cisternafigueroa@gmail.com