Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Indigene Gemeinschaften

Explosive Mischung

An die Ressourcenpolitik der Regierung von Evo Morales werden große Hoffnungen geknüpft. Die Renationalisierung des Erdgassektors verhilft ihr zu neuen finanziellen Handlungsspielräumen für eine engagierte Sozialpolitik – ­allerdings birgt die Ausdehnung der Ressourcenförderung auch neue Risiken und ein hohes innenpolitisches Konfliktpotenzial. Betroffen sind besonders indigene Bevöl­kerungsgruppen, auf deren Hoheitsgebiet Erdgas gefördert werden soll.

Von Almut Schilling-Vacaflor, Annegret Mähler und Gabriele Neußer

Seit einiger Zeit zeigt sich in Bolivien der klare Trend, Erdgas und Erdöl nicht mehr nur in traditionellen Abbaugebieten zu fördern, sondern auch in bisher unberührte Zonen vorzudringen. Im April dieses Jahres hat die bolivianische Regierung die für die Erdgas- und Erdölproduktion vorgesehenen Areale von 56 auf 98 erhöht. Diese Ausweitung betrifft in vielen Fällen auch Naturschutzgebiete und indigene Territorien. So soll ab jetzt auch in einigen Naturschutzgebieten die Erdgas- und Erdölproduk­tion möglich sein. Die in Planung befindlichen neuen Projekte sollen in den Territorien zahlreicher weiterer indigener Minderheiten umgesetzt werden.

Die aktuelle Ausweitung der Abbau-Aktivitäten wird in erster Linie von der staatlichen Erdöl- und Erdgasgesellschaft Yacimientos Petrolíferos Fiscales Boli­vianos (YPFB) getragen. Deren Rolle wurde durch den Renationalisierungsprozess des Erdgassektors seit 2006 gestärkt. Dank der Verstaatlichungspolitik gelang es der Regierung unter Präsident Evo Morales, die Staatseinnahmen im Erdgassektor in etwa zu verdreifachen.

Es gibt drei Gründe dafür, dass diese Einnahmen gewachsen sind: zum einen die wesentlich höhere Besteuerung der Umsätze der im Land tätigen privaten Unternehmen, zum anderen der massive Preisanstieg für fossile Brennträger seit 2004. Drittens hat auch die absolute Produktion von Erdgas deutlich zugenommen. So hat sich der Anteil der Exporteinnahmen aus dem Erdgassektor an den gesamten Exporteinnahmen des Landes von rund 13 Prozent (2000) auf immerhin 40 Prozent (2010) erhöht. Kehrseite dieses Exporterfolges ist jedoch die starke einseitige Abhängigkeit der bolivianischen Wirtschaft von der Ausfuhr natürlicher Ressourcen.

Die steigende Konzentration auf den Energie­sektor erklärt sich vor allem durch akute fiskalische Zwänge: Wie auch die anderen Regierungen der ­progressiven Linken in der Andenregion, steht die ­Regierung Boliviens unter dem Druck, ihre sozialen Versprechen einzulösen. Sie benötigt also die Ressourceneinnahmen, um ihre ehrgeizigen Sozial- und Entwicklungsprogramme zu finanzieren. Die Regierung Morales hat in den letzten Jahren vor allem bei der Bekämpfung der extremen Armut deutliche Erfolge erzielt.

Zur Verstetigung dieses Trends benötigt die öffentliche Hand aber auch in Zukunft hohe Wachstumsraten. Um von den hohen Renditen des Ressourcensektors zu profitieren, nimmt die Regierung auch negative Auswirkungen auf Ökonomie und Ökologie in Kauf, wie zum Beispiel eine hohe Inflation und massive Umweltschäden. Investitionen in erneuerbare Energien bleiben bisher gering, da deren kurzfristiger wirtschaftlicher und politischer Ertrag angesichts des Preishochs für Erdgas und Erdöl begrenzt ist.

Neuer Extraktivismus

Insgesamt verfolgt die bolivianische Regierung – wie auch andere progressive linke Regierungen in der Andenregion – eine neue Politik bezüglich der Bodenschätze: Der „neue“ Extraktivismus zeichnet sich gegenüber der wirtschaftsliberalen Ressourcenpolitik vorheriger Regierungen durch die hohe Beteiligung des Staates am Erdgas- und Erdölsektor sowie den Einsatz der Ressourcengewinne für Armutsbekämpfung und soziale Entwicklung aus.

Der Schutz der Umwelt und der Lebensgrundlagen von lokalen indigen-bäuerlichen Gemeinschaften ist indessen ein Eckpfeiler der bolivianischen Verfassung (siehe Kasten). Es stellt sich die Frage, inwiefern ein auf dem Abbau natürlicher Ressourcen basierendes Entwicklungsmodell damit vereinbar ist. Die aktuelle Kontroverse um den Bau einer Schnellstraße durch ein Naturschutzgebiet weist eine komplexe Konfliktlage auf. Das Naturschutzgebiet und indigene Territorium des Territorio Indígena y Parque Nacional Isiboro Sécure (TIPNIS) liegt zwischen den östlichen Ausläufern der Anden und dem Rand des Amazonas-Regenwaldes. Der TIPNIS wurde bereits im Jahr 1965 zu einem Naturschutzgebiet erklärt und ist ein Gebiet mit hoher Biodiversität sowie ein Rückzugsort indigener Völker.

Nach Protesten im Jahr 1990 wurde der TIPNIS offiziell zu einem indigenen Territorium erklärt. Darin leben die Amazonas-Völker Yuracaré, Chimán und die Moxeño Trinitarios. In den letzten Jahren kamen jedoch zunehmend interne Migrantinnen und Migranten in den TIPNIS, wobei die neu angesiedelten Familien im Süden des Naturschutzgebietes vornehmlich von der Kokaproduktion leben. Diese meist aus dem Hochland stammenden Quechua- und Aymara-Familien unterstützen mehrheitlich den Straßenbau. Die Auseinandersetzung um TIPNIS zeigt damit, dass neben dem Konflikt um konkurrierende Entwicklungsmodelle zwischen Staat und den indigenen (Amazonas-)Völkern ein weiterer zwischen unterschiedlichen indigen-ländlichen Gruppen besteht.

Der Konflikt erreichte seinen Höhepunkt im Herbst 2011 und führte vorerst zum Stopp des Projekts. Zuvor hatte die „plurinationale legislative Versammlung“ Boliviens einem Kredit der brasilia­nischen Entwicklungsbank Banco Nacional de Desenvolvimento Econômico e Social (BNDES) zum Bau der Schnellstraße zugestimmt, und Maschinen zur Konstruktion der Straße waren bereits geliefert worden. Die Bewohner des Nationalparks waren zuvor nicht konsultiert worden – entgegen dem in der Verfassung verankerten Recht der indigenen Völker Boliviens auf vorhergehende Konsultationsverfahren bei Maßnahmen, die sie betreffen. Auch fehlte ein vorgeschriebenes Umweltgutachten.

Der Zusammenhang zwischen der Ausweitung von Erdgas- und Erdölaktivitäten in Bolivien und dem Bau der Schnellstraße durch indigene Territorien ist nicht sofort ersichtlich. Der Schnellstraßenbau ist ein Teil der Infrastrukturprojekte zur regionalen Integration Südamerikas (IIRSA), die das Amazonastiefland mit den Anden verbinden sollen. Entgegen der bestehenden Umweltgesetzgebung wurden zudem im Jahr 2007 und 2008 Konzessionen zur Erdgasproduktion im TIPNIS vergeben, eine davon bezeichnenderweise an ein gemeinsames Projekt zwischen der bolivianischen YPFB und dem brasilianischen Ölriesen PETROBRAS.

Infolge der Proteste im September 2011 wurde zunächst ein Gesetz verabschiedet, welches die Unberührbarkeit des Naturschutzgebietes festlegt. Seit einigen Wochen jedoch versucht die bolivianische Regierung nun ein Konsultationsverfahren mit den lokalen indigenen Gemeinschaften in Gang zu setzen. Dahinter steht vermutlich die Hoffnung, den Straßenbau – und eventuell in einem zweiten Schritt die geplante Erdöl- und Erdgasförderung – doch noch in die Praxis umzusetzen.

Vorherige Konsultation

Das Konsultationsrecht indigener Gemeinschaften wird in den Andenländern nicht einheitlich gehandhabt. Es ist in der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über die Rechte indigener Gemeinschaften festgeschrieben, doch vielfach mangelt es noch an nationalen Ausführungsbestimmungen. Als erstes Land in Lateinamerika hat Peru im September 2011 ein Konsultationsgesetz in Kraft gesetzt. In Bolivien steht eine solche Verankerung des Konsultationsrechts in der nationalen Gesetzgebung noch aus. Wie aber auch in anderen Ländern – zum Beispiel Kolumbien und Mexiko – arbeitet die bolivianische Legislative derzeit an einem eigenen Gesetz über vorherge­hende Konsultationsverfahren. Bislang wurde die konkrete Umsetzung von Konsultationen im Zusammenhang mit der Erdgasförderung mittels eines 2007 erlassenen Dekrets geregelt.

Seit 2007 wurden in Bolivien 27 Konsultationsprozesse abgeschlossen. Diese beinhalten in vielen Fällen die Einführung zusätzlicher Maßnahmen zur Verbesserung des Umweltschutzes, wie vermehrte Monitoring-Verfahren der Umweltauswirkungen der durchgeführten Projekte. Doch viele dieser Verfahren weisen Defizite auf, wie etwa ungenügende Information oder zu kurze Zeitspannen für echte Dialogprozesse. Hinzu kommt, dass weitreichende Änderungen an der Projektausgestaltung oder gar ein Vetorecht der lokalen Bevölkerung nicht vorgesehen sind. Gerade bei Projekten, bei denen tiefgreifende soziokulturelle Auswirkungen angenommen werden, die die kulturelle Integrität indigener Völker gefährden könnten, sollte jedoch verstärkt über grundlegende Alternativen diskutiert werden.

Die Frage, inwiefern die großflächige Ausbeutung natürlicher (Energie-)Ressourcen mit den Zielen und dem Verfassungsanspruch des „Vivir Bien“ (gutes Leben) vereinbar ist, wird jedenfalls auch in Zukunft im Zentrum gesellschaftlicher und politischer Debatten und Konflikte in Bolivien stehen.

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