Entwicklung und
Zusammenarbeit

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Arbeitsbedingungen

Gesetzen Geltung verschaffen

In den Augen der Belegschaften ist Bangladeschs Textilindustrie besser als ihr internationaler Ruf. Nazma Akter, eine führende Arbeitnehmervertreterin, beurteilt die Lage im Interview mit Marianne Scholte.
Die Arbeitsbedingungen sind hart, werden aber besser. Jörg Böthling/Photography Die Arbeitsbedingungen sind hart, werden aber besser.

Seit dem Zusammensturz des Rana-Plaza-Gebäudes im April 2013 waren Sie öfter in Deutschland und Europa. Interessiert die Realität von Bangladesch die Menschen hier?
Ich habe da unterschiedliche Erfahrungen. Manche Leute wollen sich ernsthaft informieren und meine Sicht kennen lernen. Dann freue ich mich, Wissen weiterzugeben. Aber oft ist, was europäische Experten über unsere Bekleidungsindustrie sagen, sehr theoretisch. Sie kennen die Praxis unseres Landes nicht. Das ist frustrierend, denn wir wissen, was wir brauchen und was zu tun ist! Es bringt wenig, wenn Europäer oder Amerikaner versuchen, etwas zu tun, das zwar ihren Vorstellungen aber nicht unserer Wirklichkeit entspricht. Es gab schon so viele Diskussionen um immer dieselben Themen. So kommt kein konkretes Handeln zustande. Wir sollten uns darauf konzentrieren, was die Arbeitnehmer brauchen.

Westliche Firmen werden zunehmend aufgefordert, die Arbeits- und Umweltbedingungen in der gesamten Lieferkette zu zertifizieren. Bringt das nichts?
Die Lieferkette ist sehr komplex und läuft durch viele Länder. Ich glaube nicht, dass weitere Prüfungen und Inspektionen die Probleme lösen. Viele Audit-Firmen verdienen damit bereits viel Geld – und die Hersteller in Bangladesch bezahlen viel dafür, die Anforderungen für diverse Labels und Zertifizierungen zu erfüllen.

Auch öffentliche Kampagnen gegen einzelne westliche Marken und Händler haben nichts bewirkt.
Das stimmt. Ich wurde schon oft nach Europa oder Amerika eingeladen, um mich an Kampagnen gegen bestimmte Firmen und Marken zu beteiligen. Ich habe das nie getan, weil es den Arbeitern nicht hilft. Die Firmen steigen einfach auf einen neuen Zulieferer um, wenn schlechte Arbeitsbedingungen in einem Werk publik werden, und die Arbeiter verlieren dann ihre Jobs. Bisweilen haben westliche Beschaffer schlechte Publicity auch genutzt, um Preise weiter zu drücken – und die Arbeitsbedingungen wurden noch schlimmer. Einzelne Unternehmen anzugreifen hilft weder unserer Industrie noch ihren Belegschaften. Kampagnen greifen oft Billiganbieter an, was nicht fair ist. Schauen Sie mal, wer Kleidungsstücke von Tazreen und Rana Plaza bezogen hat: Discounter ebenso wie europäische Edel-Marken. Manchmal scheint mir, Kampagnen erleichtern es multinationalen Unternehmen sogar, Ausbeutung zu verschärfen. Das Problem ist, dass keiner sich darum schert, was die Belegschaften brauchen.

Was brauchen sie denn?
Unser Arbeitsrecht ist recht gut, aber es wird kaum angewendet. Es muss umgesetzt werden. Wir akzeptieren die Gesetze sowie die ILO-Abkommen, die unsere Regierung ratifiziert hat. Wir brauchen keine zusätzlichen Regeln. Wer Arbeitnehmern in Bangladesch helfen will, muss auf der Geltung unseres Rechts bestehen. Was soll die Betonung internationaler Standards? Weltweit gilt fast überall die Fünf-Tage-Woche. Bei uns sind sechs Tage normal. Das entspricht unserem Gesetz und die Arbeiterinnen akzeptieren es. Halten sie sich an unsere Gesetze! Sie enthalten Regeln für die Abrechnung von Überstunden, Mutterschaftsurlaub, Kinderbetreuung und so weiter. Den Gesetzen muss endlich Geltung verschafft werden – genau daran hapert es.

Was ist mit den Löhnen? In Europa und Nordamerika werden existenzsichernde Löhne in Bangladesch gefordert.
Ja, die Löhne in Bangladesch sind sehr niedrig. Aber es hilft nicht, wenn der Westen existenzsichernde Löhne fordert. Unsere Löhne werden bei Verhandlungen zwischen Regierung, Unternehmern und lokalen Gewerkschaften festgelegt – und so muss es auch sein. Ich selbst war in der Kommission, die 2006 die Lohnerhöhung aushandelte. Die nominalen Löhne sind aber nicht das eigentliche Problem, denn wenn sie heute steigen, steigen morgen die Mieten und andere Lebenshaltungskosten. Makler, Großgrundbesitzer, Lebensmittelhändler, Fabrikbesitzer heben sofort ihre Preise an, wenn der Mindestlohn steigt. Daher bringen Lohnerhöhungen meist nur wenig.

Warum frisst Inflation Lohnerhöhungen so schnell auf?
Millionen von Arbeiterinnen sind vom Land nach Dhaka und Chittagong gezogen. Es herrscht entsetzlicher Mangel an Wohnraum, Sanitäranlagen, Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung und so weiter. Wer Geld hat, gibt es auch aus. Und wenn die Löhne steigen, tun das alle. Aber das Angebot an den Dingen, die gebraucht werden, steigt nicht. Die Arbeitgeber bauen Fabriken, aber niemand errichtet Wohnheime oder erweitert Gesundheitseinrichtungen. Die hygienischen Verhältnisse sind miserabel; es gibt keine Toiletten und kein sauberes Trinkwasser. Kinderbetreuung? Fehlanzeige. Junge Frauen schicken ihre Kinder aufs Land zu den Großmüttern und Tanten. Babys werden nicht gestillt; die Mütter sind deprimiert. Es gibt nicht ansatzweise genügend gute öffentliche Schulen. Darum geht es.  

Wer muss sich darum kümmern?
Wir brauchen keine ausländischen Zertifizierungen und internationalen Kampagnen für existenzsichernde Löhne. Wir brauchen konkrete Zusammenarbeit, um die Arbeitnehmer besser zu versorgen. Bangladesch bekommt viel Entwicklungshilfe, und ein Teil fließt sogar in die Bekleidungsindustrie. Davon sollten Belegschaften direkt profitieren – durch Wohnraum, Schlafsäle, medizinische Versorgung, Toiletten und Schulbildung. Unsere Regierung kann nicht alles allein stemmen. Markenhändler und -hersteller müssen im Rahmen von Corporate Social Responsibility auch etwas beitragen. All das muss in öffentlich-privaten Partnerschaften angegangen werden.

Wie könnte das zum Beispiel aussehen?
Es besteht großer Bedarf an Kinderbetreuung. Unserem Arbeitsrecht zufolge müssen Betriebe mit mehr als 40 Mitarbeiterinnen dafür sorgen. Viele große und leistungsstarke Fabriken haben jetzt Räume mit Spielgeräten und sehen bei Audits gut aus. Tatsächlich läuft dort aber keine Kinderbetreuung. Wir brauchen öffentlich-private Partnerschaften, um das zu ändern. Die Regierung muss Recht durchsetzen. Lokale und internationale Unternehmen müssen Geld für die Kinderbetreuung beisteuern – ob in der Fabrik oder in der Gemeinde. Und die Gewerkschaften müssen darauf achten, dass das passiert.  

Sind die Gewerkschaften nach Rana Plaza dafür stark genug?
Es gibt Fortschritte. Wegen des Abkommens zu Feuer- und Gebäudesicherheit in Bangladesch, einer weitreichenden und historisch wichtigen Übereinkunft internationaler und lokaler Partner, wurden mehr als 1700 Fabriken inspiziert. Oft waren örtliche Gewerkschafter und Aktivisten beteiligt. Sie werden auch nötige Baumaßnahmen überwachen. Das stärkt die Stellung der Gewerkschaften in den Betrieben. Seit Rana Plaza werden sie nun in mehr als 200 Fabriken anerkannt. Das ist enorm. Viele Arbeiterinnen können dank Gewerkschaften jetzt mit dem Management in Dialog und sogar in Tarifverhandlungen treten. Das ist ein riesiger Fortschritt. Das Bewusstsein für Arbeitsthemen wächst, und der Dialog zwischen Management und Belegschaften ist wichtig. Trotzdem gibt es noch viele Probleme. Manche Gewerkschafter wurden entlassen, andere beschimpft oder tätlich angegriffen, und es wurden falsche Klagen erhoben.

Sie wurden vor 30 Jahren Textilarbeiterin und sind seit 25 Jahren aktive Gewerkschafterin. 2003 haben Sie die Stiftung AWAJ gegründet, um Arbeitnehmerrechte zu fördern und Frauen auf gewerkschaftliches Engagement vorzubereiten. Wie hat sich die Lage im Lauf der Jahre geändert?
Als ich in der Fabrik anfing, in der auch meine Mutter arbeitete, wurde die Belegschaft schlimm behandelt. Frauen wurden beschimpft, geschlagen und sexuell missbraucht. Das ist zum Glück kein großes Thema mehr. Es gibt jetzt auch weniger Überstunden. Früher hat sich niemand an das Gesetz gehalten. Sieben Tage die Woche und Arbeiten bis Mitternacht war üblich. Heute ist vieles besser. Im Schnitt arbeiten Näherinnen jetzt sechs Mal pro Woche zehn Stunden täglich. Die Schichten dauern zehn, aber manchmal auch zwölf Stunden. 14 Stunden gibt es kaum noch. Heute geben 70 Prozent der Betriebe Mutterschaftsurlaub und die Bedürfnisse von Schwangeren werden anerkannt. Das war früher anders.

Warum ist es besser geworden?
Das Bewusstsein der Arbeitnehmerinnen ist gewachsen, und sie erhalten rechtliche Unterstützung. Sie erheben ihre Stimme und fordern Rechte ein. So haben sich die Dinge gewandelt. Heute sind berufstätige Frauen in Bangladesch stolz auf ihre Unabhängigkeit, ihr Einkommen und auf ihre Beiträge zu Familienhaushalt und dem volkswirtschaftlichen Erfolg. Wir hängen von dieser Branche ab, und wir bestehen darauf, dass unsere Rechte respektiert werden.

 

Nazma Akter ist Gründerin und Geschäftsführerin der AWAJ-Foudation, die die Rechte der Arbeitnehmerinnen in Bangladesch verteidigt. „Awaj“ bedeutet auf Bengali „Stimme“.
awaj@dhaka.net

 

 

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