Bangladesch
Mangel trotz hohen Wachstums
Reis ist das Grundnahrungsmittel in Bangladesch. Er liefert den Menschen mehr als 70 Prozent ihrer Kalorienzufuhr. In unserer Sprache – Bengali – sind Reis und Essen Synonyme. Aber niemand isst Reis freiwillig einfach nur mit Salz. Wer nur Reis isst, besitzt wenig Geld für Essen. Meine Forschung der letzten vier Jahrzehnte hat gezeigt, dass die Nahrungsmittelvielfalt der Menschen die Höhe ihres Einkommens widerspiegelt.
Für Menschen mit einem durchschnittlichen Einkommen ist die Nahrungsmittelvielfalt beschränkt. Das Bengalische Institut für Entwicklungsstudien (Bangladesh Institute of Development Studies, BIDS) berichtete, dass im Jahr 2008 die Kalorienzufuhr eines Erwachsenen im Durchschnitt zu 76 Prozent aus Getreide – vor allem Reis – stammte, zu 17 Prozent aus anderen pflanzlichen Quellen und zu nur sechs Prozent aus tierischen Quellen, vor allem Fisch.
Gerade genug
Dem BIDS zufolge nimmt ein Bengale im Durchschnitt 1894 Kilokalorien am Tag zu sich. Das entspricht zwar der Menge, die minimal zum Leben notwendig ist, es ist aber weniger als die von Gesundheitsexperten empfohlene Menge. Im Vergleich zu sechs anderen südasiatischen Ländern besitzt Bangladesch die höchste Ernährungsunsicherheit, so der Global Food Security Index.
Bangladesch ist ein sehr armes Land. Laut dem nationalen Statistikamt leben etwa 40 Prozent der Bevölkerung in Armut und 20 Prozent in extremer Armut. Die bengalische Regierung unterstützt zwar mehrere Programme zur sozialen Sicherung, gibt dafür jedoch nur 0,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus. Das ist deutlich weniger, als andere Länder in dieser Region aufbringen. Die Programme unterstützen zudem nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Gleichzeitig jedoch helfen nichtstaatliche Organisationen (NGOs) mit einer Vielzahl an Programmen, die Armut zu bekämpfen und die Ernährung für die arme Bevölkerung zu sichern.
In Bangladesch wächst Reis am besten. Das riesige Delta des Ganges und die Flüsse Meghna und Brahmaputra bieten sehr fruchtbare Böden. Seit den 1970er Jahren hat sich die Reisproduktion verdreifacht, während sich die Bevölkerung verdoppelte. Bangladesch kann sich nun mit Reis nahezu selbst versorgen und importiert in guten Jahren lediglich fünf Prozent des Reisbedarfs.
Dennoch hatte Bangladesch der Welternährungsorganisation (FAO) zufolge Ende des letzten Jahrzehnts mit 26 Prozent immer noch den höchsten Anteil unterernährter Menschen in ganz Südasien. Betroffen sind vor allem arme Landbewohner. Viele von ihnen besitzen kein eigenes oder nur sehr wenig Land. Oft arbeiten sie als schlecht bezahlte Helfer auf Farmen. Mehr als zwei Drittel von ihnen bekommen in den Monaten vor der Ernte – März, April, September und Oktober – zu wenig zu Essen.
Einiges hat sich aber auch verbessert. Das vierte Millenniumsentwicklungsziel – die Sterblichkeit der Kinder unter fünf Jahren um zwei Drittel zu reduzieren – ist in Bangladesch bereits erreicht. Laut UNICEF ist im Jahr 2000 die Sterberate in dieser Altersgruppe von 142 Toten pro 1000 Lebendgeburten auf 48 gesunken. Viele Programme halfen, dass mehr Kinder geimpft wurden, die Vitamin-A-Zufuhr verbessert und Salz mit Jod angereichert wurde.
Mitte der 1990er Jahre berichtete UNICEF, dass 50 Prozent aller neugeborenen Kinder weniger als 2,5 Kilogramm wogen, was einem niedrigen Geburtengewicht entspricht. Bis zum Jahr 2004 sank diese Quote auf 34 Prozent, so UNICEF. Das bestätigen auch Daten des von der Gesundheits-NGO Gonoshasthaya Kendra (GK) betriebenen Krankenhauses in Dhaka.
Dennoch bleibt die chronische Unterernährung von Kindern eine der größten Herausforderungen in Bangladesch. Nach Angaben von UNICEF sind 37 Prozent der Kinder unter fünf Jahren untergewichtig, 49 Prozent sind körperlich zurückgeblieben und 13,5 Prozent leiden an akuter Unterernährung. Die Situation vieler Frauen ist ebenfalls besorgniserregend. Mehr als 50 Prozent leiden an chronischem Proteinmangel sowie Mikronährstoffmangel. Eisenmangel führt bei Mädchen und Frauen im gebärfähigen Alter zu Blutarmut, wodurch die Frauen anfälliger sind für Infektionen. Dies wiederum führt zu einer erhöhten Krankheits- und Sterblichkeitsrate.
Unter den Armen sind Frauen die Ärmsten. Als Mädchen wurde ihnen beigebracht, dass Opferbereitschaft eine Tugend ist. Die Folgen davon wurden in meiner Feldforschung in ländlichen Gebieten deutlich: Wenn Haushalte nur wenig hochwertige Lebensmittel wie Milch, Fisch und Eier haben, nehmen Frauen und junge Mädchen sich zurück und überlassen das teure Essen den männlichen Familienmitgliedern.
Arme Frauen haben kaum Zugang zu produktiven Ressourcen, sie haben keine Entscheidungsbefugnisse und können nicht kontrollieren, wie ihr Ehemann sein Einkommen ausgibt. Selbst wenn sie eigenes Geld verdienten, würde ihr Ehemann das Gehalt für sich beanspruchen. Ich weiß von mehreren Fällen, in denen Männer mit dem Geld, das die Familie als Mikrokredit bekommen hatte, für mehrere Monate verschwanden. Die armen Ehefrauen wurden mit der Tilgung der Kredite zurückgelassen und unterstützten ihre Familien so gut es ging.
Es sind die Frauen, die den Haushalt managen, daher wissen sie, wie sie mit Lebensmittelunsicherheiten umzugehen haben. Wenn die Zeiten härter werden, reduzieren sie die Mengen an getreidearmen und proteinreichen Lebensmitteln. Sie wechseln zu Getreidearten wie Weizen oder strecken den gekochten Reis mit Kartoffeln. Aus der Not heraus kochen sie aus Reis Brei oder sammeln wild wachsendes Obst und Gemüse.
Wenn auch diese Einschränkungen nicht mehr ausreichen, beginnen die Frauen, sich einen Job zu suchen. Am liebsten übernehmen sie traditionelle Arbeit in ihren Dörfern, ansonsten müssen sie in die Städte auswandern. Wenn sie dort harte körperliche Arbeit verrichten, zum Beispiel auf städtischen Baustellen, brauchen sie in der Regel mehr Energie, als sie durch die vorhandene Nahrung erhalten. Wenn all dies nicht mehr geht, müssen die Frauen ihr noch vorhandenes Vermögen verkaufen.
Die Tragödie ist, dass alles, was sie tun können, um zu überleben, ihre eigene Gesundheit gefährdet und sie tiefer in die Armut treibt. Die Frauen stecken in einem Teufelskreis fest, dem sie nicht entkommen können.
Politische Aufgaben
Heute produziert Bangladesch genug Reis, um all seine Bewohner zu ernähren. Dennoch bekommen Millionen Menschen nicht genug zu Essen. In seiner Analyse von Bangladeschs großer Hungersnot im Jahr 1943 und anderer Hungersnöte zeigt der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen, dass die Menschen nicht hungerten, weil es kein Essen gab, sondern weil sie keinen Zugang zu den vorhandenen Nahrungsmitteln hatten. In Bangladesch befinden sich die Menschen, die kein Land, keine Qualifikationen oder Vermögen besitzen, in einem Teufelskreis der Armut.
Experten argumentieren oft, dass Wirtschaftswachstum Armut reduziere und den Menschen Ernährungssicherheit bringe. Die Wahrheit ist aber, dass Wachstum alleine nicht ausreicht. In den letzten Jahren wuchs Bangladeschs Wirtschaft um beeindruckende sechs Prozent jährlich – doch die Situation der Millionen von armen Menschen ist nicht besser geworden. Unser Land braucht eine Politik, die die Situation der Menschen verbessert und geschlechterspezifische Unterschiede in der Gesellschaft korrigiert. Andernfalls werden wir nicht in der Lage sein, die Probleme der Unterernährung zu bewältigen.
Unsere Verfassung definiert Ernährungssicherheit als Menschenrecht und erklärt die Regierung dafür verantwortlich, dass die gesamte Bevölkerung satt wird. In den vergangen Jahren wurden bemerkenswerte Erfolge erzielt und auch NGOs sowie bi- und multilaterale Geberorganisationen haben einen großen Beitrag zur Ernährungssicherheit geleistet. Allerdings ist das Menschenrecht auf Nahrung bisher eine Vision und nicht die Realität.
Bangladeschs Bemühungen, Unterernährung zu minimieren, sind bei weitem noch nicht zufriedenstellend. Da 85 Prozent der armen Menschen in ländlichen Gebieten leben, ist es wichtig, dass sich die Politik auf diese Gruppe konzentriert und ihnen die Möglichkeit gibt, sich ihre Nahrung langfristig zu sichern. Die tiefsitzenden Geschlechterdifferenzen sowie die Ungleichheiten beim Zugang zu Land und anderen lebenswichtigen Gütern müssen in Angriff genommen werden.
Najma Rizvi ist Professorin für Anthropologie an der Gono Bishwabidyalay Universität in Dhaka. Die Universität wurde von Gonoshasthaya Kendra gegründet, einer nichtstaatlichen Gesundheitsorganisation.
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