Biodiversität

Altes Wissen, neue Wege

Wenn traditionelles Wissen und natürliche Ressourcen besser genutzt werden sollen, dann müssen lokale Gemeinschaften beteiligt werden. In einigen der armen Dörfer im indischen Teil des Ganges-Deltas brachte das Fortschritte in der Ernährungssicherung, der Gesundheitsversorgung und beim Zugang zu netzunabhängiger Elektrizität. Bei der Verwirklichung technologisch angepasster Lösungen spielte eine nichtstaatliche Organisation die entscheidende Rolle.


[ Von A.K. Ghosh ]

Biodiversität ist das neue Schlagwort in der Umweltpolitik. Aber die Zeit seit Verabschiedung der Biodiversitätskonvention auf dem Weltgipfel in Rio de Janeiro 1992 war mehr von Rhetorik als von Taten geprägt. Sehr unterschiedliche Länder mit dem gleichen Ziel tauschen seither Ideen und Erfahrungen untereinander aus. Da die Artenvielfalt in tropischen Ländern besonders groß ist, sind naturgemäß viele Entwicklungsländer beteiligt. Bisher wurden zwar viele gute Vorsätze formuliert, aber nur selten umgesetzt.

Indien hat die Initiative ergriffen, indem es strenge gesetzliche Regelungen eingeführt und eine dreigliedrige Verwaltung aufgebaut hat. Kern ist die Nationale Behörde zum Schutz der Biodiversität. Dazu kommen Gremien in den Bundesstaaten sowie lokale Biodiversitätskomitees. Letztere sollen mit Hilfe vor Ort erstellter Biodiversitätsregister arbeiten, den People’s Biodiversity Registers (PBRs).

Die Idee der PBRs stammt aus den frühen 1990er Jahren. Ausgangspunkt war die Überlegung, dass die Beteiligung der Bevölkerung an der Bestandsaufnahme lokaler Bioressourcen und des damit verbundenen Wissens entscheidend sei, um einen Überblick über die natürlichen Ressourcen in einer bestimmten Region zu gewinnen. Die Idee war, dadurch einen vernünftigeren Umgang mit Bioressourcen zu fördern und vielleicht dazu beizutragen, ein Verfahren zur Aufteilung von Gewinnen auf überregionaler oder sogar internationaler Ebene anzustoßen. In Indien wurden in den vergangenen 15 Jahren mindestens 50 PBRs erstellt – dank der führenden Rolle des Indian Institute of Science in Bangalore und verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen. Die Forschung brachte tatsächlich eine erstaunlich große Artenvielfalt zu Tage. Doch diese Vielfalt wird viel zu wenig genutzt.

Das müsste nicht sein. Die Arbeit der in Kalkutta ansässigen Organisation ENDEV (Society for Environment and Development) hat gezeigt, dass die innovative Nutzung traditionellen Wissens das Leben der Menschen in ländlichen Gebieten entscheidend verbessern kann, beispielsweise in Bereichen wie Landwirtschaft oder Versorgung mit Medizin und Energie. Das gilt insbesondere für abgelegene, ökologisch gefährdete Gebiete wie die Sundarban-Wälder im Ganges-Delta.

Diese Gegend von Indien und Bangladesch ist der größte Mangrovenwald weltweit. Auf Bengali bedeutet Sundarban „schöner Wald“. Von jeher leben dort der majestätische bengalische Tiger und das Estuarian-Krokodil sowie tödlich giftige Kobras. Das Gebiet beherbergt bis heute eine besonders große Artenvielfalt. Einige Inseln sind noch immer Wildnis und werden geschützt, andere hingegen sind längst bewohnt und werden zum großen Teil landwirtschaftlich genutzt.

Aber die Sundarban-Dörfer sind weiter stark benachteiligt. Es fehlt an Infrastruktur, Straßen und Elektrizität. Die Metropole Kalkutta ist nur einige Dutzend Kilometer entfernt, aber es dauert Stunden, sie mit dem Boot zu erreichen. Es gibt keine ausreichende Gesundheitsversorgung, die Schulen sind schlecht und die Dörfer werden immer wieder überflutet und von schweren Stürmen heimgesucht.

Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, die natürlichen Ressourcen besser zu nutzen. Im Staat Westbengalen wurden in zehn Dörfern in verschiedenen agroklimatischen Zonen Biodiversitätsregister angelegt. ENDEV trainierte dazu zweihundert Studenten aus der Gegend, die Hälfte davon Frauen. Sie ermittelten die verfügbaren Land- und Wasserressourcen, die landwirtschaftliche Vielfalt sowie die natürliche Biodiversität. Außerdem forschten sie zum traditionellen Wissen der Dorfbewohner.

Ein Ergebnis war die Einrichtung von zwei Saatgutbanken auf Dorfebene, in denen traditionelle Reissorten für den kostenlosen Austausch zwischen den Bauern lagern. ENDEV überzeugte die Bauern durch praktische Demonstrationen von den Vorteilen organischer Anbaumethoden, die sie von teuren Düngern und Pestiziden unabhängig machen. Einheimische Sorten (land races) sind den Bedingungen vor Ort besonders gut angepasst. Ihr Anbau erhöht daher die Ernährungssicherheit. Das UN-Entwicklungsprogramm und die Global Environment Facility unterstützten das Projekt durch kleine Zuschüsse.

Anbau von Heilpflanzen

Andernorts wurden biologische Ressourcen dazu genutzt, die Gesundheitsversorgung nach traditionellem Wissen zu unterstützen oder wieder einzuführen. Mit Hilfe von Dorffrauen, die ihre freiwillige Hilfe anboten, führte ENDEV eine Studie über häufige Krankheiten sowie Heilpflanzen auf der Sundarban-Insel Choto Mollakhali durch. Die Insel hat 30 000 Einwohner, aber nur einen Arzt und ein einziges Zentrum für medizinische Grundversorgung.

Im Laufe des Projekts wurden 50 Pflanzenarten für die Zucht in einer Kräuterpflanzschule ausgesucht. Die Pflanzen wurden auf der Grundlage der Studie über häufige Krankheiten ausgewählt mit dem Ziel, die traditionelle Gesundheitsversorgung wiederzubeleben. Außerdem wurde ein Garten für medizinische Pflanzen angelegt. ENDEV erstellte ein leicht verständliches Handbuch, das erklärt, welche Pflanzenteile sich für die Behandlung solcher Beschwerden wie Fieber, Erkältung oder Magenschmerzen eignen.

Gleich neben der Zuchtanlage und dem Garten wurde ein kleines Heilpflanzenzentrum errichtet. Bei der Einweihung brachte der einzige Arzt der Insel seine Dankbarkeit zum Ausdruck. Das Zentrum soll den Nachschub an Pflanzensprösslingen für interessierte Dorfbewohner sicherstellen. Es soll dazu ermutigen, in jedem Haushalt einen eigenen kleinen Kräutergarten anzulegen.

Die kluge Nutzung von Bioressourcen hat das Inselleben auch in einem anderen Bereich verändert. Auf Anfrage der West Bengal Renewable Energy Development Agency (WBREDA) wählten ENDEV-Mitarbeiter fünf schnell nachwachsende Pflanzen als Biomassematerial für ein Kraftwerk aus. Diese vom Stromnetz unabhängige Anlage hat eine Kapazität von 500 Kilowatt. Zuvor gab es auf Choto Mollakhali keinen Strom. Es war nicht machbar, die Insel ans Elektrizitätsnetz anzuschließen, und andere erneuerbare Energien (wie Wind- oder Solarenergie) waren für die armen Dorfbewohner zu teuer. Dank einer fortgeschrittenen Technologie zur Umwandlung der Biomasse in Gas konnte der kostspielige Dieselverbrauch des neuen Kraftwerks um 80 Prozent reduziert werden.

Nach einer ersten Machbarkeitsstudie beantragte ENDEV beim Panchayat, der demokratisch gewählten Lokalverwaltung, für die gesamte Gemeinde eine Plantage für Bioenergie-Pflanzen anzulegen. Dieses Programm läuft seit fünf Jahren mit Erfolg. Das jeweils genutzte Anbauland reicht für den nächsten Fünf-Jahres-Zyklus (Ghosh und Das, 2003). Der Erfolg dieses Pilotprojekts auf den Sundarban-Inseln überzeugte das Ministerium für alternative Energien (MNES) davon, solche Plantagen anzulegen, wann immer ein Biomassekraftwerk geplant wird.

In all diesen Beispielen sind aus erfolgreichen Projekten auf Dorfebene übertragbare Modelle geworden. Entscheidend ist die lokale Beteiligung. Als nichtstaatliche Organisation konnte ENDEV bei den Dorfbewohnern das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Projekte stärken. Die Weitergabe von relevantem Wissen an die Panchayats ist sinnvoll. Solches Wissen war im ländlichen Raum schon immer wichtig, aber innovative Wege, es zu nutzen, steigerm seinen Wert zusätzlich. Die Beteiligung von Frauen an allen genannten Projekten war notwendig, um die gesamte Breite traditionellen Wissens zu erschließen. Außerdem stärkte sie die Idee der Gleichstellung der Geschlechter.

Heute erstellt Indiens Biodiversitätsbehörde Datenbanken, etabliert Mechanismen zur breiten Teilhabe an Vorteilen der Nutzung von Biodiversität und sucht nach Wegen des Ressourcentransfers. Einige Biodiversiätsbehörden auf Bundesstaatsebene versuchen, die Panchayats zu sensibilisieren. Hingegen ist das Potenzial der Zivilgesellschaft bei weitem nicht ausgeschöpft. Regierungsorganisationen sollten enger mit nichtstaatlichen Initiativen zusammenarbeiten, da diese normalerweise besseren Zugang zu den lokalen Gemeinschaften haben. Die zivilgesellschaftlichen Modelle für nachhaltige Bioressourcennutzung in Westbengalen jedenfalls haben von internationalen und nationalen Organisationen großes Lob erhalten.