ECOWAS
Migration aus Westafrika ist kein Verbrechen
Die Medienberichterstattung vermittelt den Eindruck, Migration finde hauptsächlich von Entwicklungsländern in reiche Nationen statt. Tatsächlich bewegen sich Menschen in der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) vor allem innerhalb ihrer Weltregion. Diese Migrationsströme entstanden nach der Unabhängigkeit. Sie entsprechen den Zielen der ECOWAS, die freien Personen- und Warenverkehr anstrebt.
Seit rund zwei Jahrzehnten behindert aber die Politik der EU diese Freizügigkeit. Die EU will aus innenpolitischen Motiven Migration nach Europa strikt begrenzen und allenfalls Fachkräfte hereinlassen. Entsprechend drängt sie westafrikanische Länder, ihre Grenzen strenger zu kontrollieren. Offiziell unterstützt die EU die wirtschaftliche Integration Westafrikas, aber ihr Bestehen auf Grenzkontrollen läuft diesem Ziel zuwider.
Für Westafrika ist Migration allerdings ökonomisch wichtig. Sie ist für das Überleben vieler Gemeinschaften – besonders im ländlichen Raum – entscheidend. Oft ist Migration ein Familienprojekt. Verwandten wird geholfen, in der Ferne Chancen zu ergreifen, und im Gegenzug schicken diese Leute dann Geld zurück nach Hause. Die Abwanderung führt in die städtischen Zentren, aber auch in Nachbarländer und manchmal auch nach Übersee. Es gibt nur wenige senegalesische Familien, die keine Verwandten im Ausland haben.
Mangelnde Perspektiven in der Heimat
Migration dient oft als eine Art Rettungsanker. Junge Menschen finden daheim nämlich oft keine Perspektiven. Traditionelle Wirtschaftszweige wie Fischfang und Landwirtschaft bieten kaum attraktive Beschäftigungschancen (siehe Box). Nicht zuletzt wegen der Politik der EU stehen sie unter hohem internationalem Druck.
Feste Arbeitsplätze im formellen Sektor gibt es kaum. Daran haben weder die Politik Senegals noch die internationale Entwicklungspolitik etwas geändert. Obendrein sind die Bildungschancen knapp. Private Einrichtungen sind teuer, und die staatlichen Universitäten sind überfüllt.
Junge Menschen suchen nach Auswegen und Anpassungsmöglichkeiten. Viele arbeiten in Großstädten wie Dakar im informellen Handel. Allerdings sind die wenigen geeigneten Standorte hart umkämpft, so dass viele nicht Fuß fassen können. Paradox ist auch, dass sie als „informell“ eingestuft werden, obwohl sie Steuern zahlen.
Senegal gilt folglich weiterhin als Ausreise-, Transit- und Aufnahmeland. Legale Abwanderung nach Europa oder Nordamerika ist für die meisten Menschen aber unmöglich. Unter europäischem Druck hat sich auch die Sichtweise von Senegals Öffentlichkeit verändert. Den Menschen wird eingebläut, sie könnten im Heimatland erfolgreich sein und sollten dort bleiben. Junge Menschen, die auf der Flucht in der Wüste verdursten oder im Mittelmeer ertrinken, gelten nicht mehr als Opfer. Ihnen wird unterstellt, sie seien unmotiviert, erfolglos und selbstmörderisch.
Migration als Menschenhandel
Unter EU-Druck hat Senegal die Migration mit Booten rechtlich mit Menschenhandel gleichgesetzt und unter Strafe gestellt. Folglich sehen sich junge Leute zu anderen lebensgefährlichen Auswanderungsstrategien gezwungen.
Auch Migrationsabsichten gelten nun als illegal. Das ist juristisch problematisch, denn die beschuldigten Personen sind dank ihrer Staatsangehörigkeit (ob Senegals oder eines anderen ECOWAS-Mitglieds) zum Aufenthalt in Senegal berechtigt.
Senegals Grenzkontrollen in Afrika werden zudem von europäischen Frontex-Agenten unterstützt, was die Migration innerhalb der ECOWAS erschwert und das Land innerhalb der Staatengemeinschaft isoliert. Bislang hat der Staat zwar noch keinen Vertrag mit Frontex unterzeichnet, aber schon die Präsenz der Agenten im Senegal bereitet Sorge.
Obendrein ist das Staatshandeln intransparent. Senegals Zivilgesellschaft weiß nicht, welche Verhandlungen die Regierung mit welchen Zielen mit EU-Partnern führt. Unabhängige Organisationen können ohne solche Informationen ihre Wächterrolle nicht wahrnehmen. Sie sollten beobachtend an internationalen Gesprächen beteiligt werden.
Klar ist, dass die senegalesische Politik europäischen Interessen dient. Dabei betont die Migrationspolitik der EU ausschließlich Sicherheitsfragen und nimmt andere wichtige Dinge nicht zur Kenntnis. Dazu gehören soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit, Verstöße gegen demokratische Prinzipien und Menschenrechte, intransparente Verwaltung und die Diskriminierung von Frauen. All das trägt dazu bei, dass Menschen Westafrika verlassen wollen.
Tatsächlich sind die Missstände so groß, dass selbst Senegals Ruf als Demokratie fragwürdig ist. Die öffentliche Meinung wird manipuliert und politische Akteure halten sich nicht an Wahlversprechen. Die Ungleichheit von Mann und Frau ist gesetzlich verankert. Bauern und „informell“ Beschäftigte – also die große Mehrheit der Bevölkerung – haben keine soziale Sicherung, auch im Alter nicht. Dass die Erwerbstätigkeit von Millionen als „informell“ gilt, zeigt ohnehin, wie dysfunktional der postkoloniale Staat ist.
Afrikanische Bedürfnisse zählen nicht
Die dominanten Wirtschaftsmächte, die Zuwanderung als Bedrohung sehen, obwohl sie sie brauchen, bestimmen die Spielregeln der internationalen Migration. Sie maßen sich an, zwischen guten und schlechten Migranten auszuwählen. Die Bedürfnisse benachteiligter Bevölkerungsgruppen in Entwicklungsländern spielen dabei keine Rolle. Das offenbart den Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit der Aufnahmeländer.
Im 19. Jahrhundert wanderten Menschen aus Europa massenhaft nach Amerika aus. Dadurch wurde das große Elend der industriellen Revolution erleichtert. Heute braucht Afrika diese Art von Unterstützung. Angesichts des hohen Bevölkerungswachstums und der begrenzten wirtschaftlichen Kapazitäten ist Abwanderung ein natürlicher Prozess. Anstatt ihn zu ermöglichen, mischt sie die EU in die Politik afrikanischer Länder ein, um ihn nach Möglichkeit zu unterbinden.
Fatou Faye arbeitet im Westafrikabüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Dakar.
fatou.faye@rosalux.org