Postkolonialismus

Postkoloniale Perspektiven müssen ernstgenommen werden

Kolonial geprägte Machtstrukturen spielen auch in der internationalen Zusammenarbeit eine Rolle. Kritik daran gibt es seit langem, fand bisher aber kaum Berücksichtigung. Damit sich das ändert, müssen Institutionen eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeitsweise intern verankern.
Viele westliche Mächte engagieren sich in ihren ehemaligen Kolonien und verfolgen dabei auch geopolitische Interessen: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron trifft im Juni 2020 zum Gipfel der Regionalorganisation G5 Sahel in Nouakchott, der Hauptstadt von Mauretanien, ein. Ludovic Marin/picture-alliance/AP Viele westliche Mächte engagieren sich in ihren ehemaligen Kolonien und verfolgen dabei auch geopolitische Interessen: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron trifft im Juni 2020 zum Gipfel der Regionalorganisation G5 Sahel in Nouakchott, der Hauptstadt von Mauretanien, ein.

Seit Jahrzehnten gibt es Kritik an Entwicklungszusammenarbeit aus postkolonialen und Post-Development-Perspektiven. Trotzdem hat sich wenig bewegt. Wer die Analysen aus dem Werk „The Development Dictionary“ von 1992 mit denen aus seinem Nachfolgewerk von 2019 vergleicht, gewinnt den Eindruck, dass sich an vielen kolonial geprägten Machtstrukturen kaum etwas geändert hat.

Eine gängige Erwiderung besteht darin, die Anmerkungen zu Ungleichheiten in der Kooperation seien zwar richtig, aber zu abstrakt und zu weit entfernt von der täglichen Arbeit. Seit Jahren gibt es viele Bemühungen, hier Brücken zu schlagen. Berechtigte Kritik aus postkolonialen und Post-Development-Theorien muss dringend ernst genommen werden.

Entwicklungszusammenarbeit hat nicht zuletzt das Ziel, soziale Ungleichheiten und Marginalisierung zu bekämpfen. Daher müssen diskriminierende Strukturen in der Kooperation abgebaut werden. Wir sind überzeugt davon, dass eine Abkehr von der kolonial gewachsenen Idee von „Entwicklung“, wie unlängst von Aram Ziai und Julia Schöneberg gefordert (siehe ihren Beitrag im Schwerpunkt des E+Z/D+C e-Paper 2020/09), notwendig ist. Gleichzeitig ist uns bewusst, dass es für eine sozial gerechte und ökologisch nachhaltige Zukunft ein starkes globales Netzwerk braucht, das Wissensaustausch und Solidarität ermöglicht.


Konstante kritische Auseinandersetzung

Ungleichheiten innerhalb von Strukturen und Prozessen der globalen Zusammenarbeit müssen abgebaut werden. Dies setzt einen kritischen Umgang mit historisch gewachsenen Machtstrukturen voraus. Postkoloniale Ansätze weisen darauf hin, dass koloniale Denkmuster weiterhin wirtschaftliche Ausbeutungsverhältnisse stützen. Außerdem beeinflussen sie – aufgrund geopolitischer Interessen – internationales Eingreifen in Konflikte und unterdrücken nichteurozentrisches Wissen.

Organisationen müssen deshalb eine kontinuierliche Reflexion sicherstellen und Wandel ermutigen. Dabei ist zentral, dass eine solche Arbeit in globalen Netzwerken funktioniert, in denen die Repräsentation und Anerkennung von Stimmen aus dem Globalen Süden garantiert ist. Hier könnten die neu geschaffenen Netzwerke des Global Tapestry of Alternatives, des Global Partnership Network oder der EU COST Action Decolonising Development in den nächsten Jahren gute Beispiele liefern.

Institutioneller Rassismus ist ein wesentlicher Bestandteil der ungleichen Machtstrukturen und muss deshalb konsequent angegangen werden, etwa durch regelmäßige Anti-Rassismus-Trainings. In Deutschland werden bereits freiwillige Workshops zum Beispiel in der Akademie für Internationale Zusammenarbeit oder vom bildungspolitischen Verein glokal e. V. angeboten.


Partnerschaftlicher Austausch und Kooperation

Die Reflexion globaler Machtstrukturen muss strukturellen Wandel nach sich ziehen. Die Devise „think globally, act locally“ sollte in der Entwicklungszusammenarbeit mehr Anwendung finden. Anstatt weiße Experten in Länder zu schicken, die kulturelle, soziale und politische Dynamiken weitaus schlechter kennen als Menschen vor Ort, sollte ein System etabliert werden, das auf Kooperationen mit selbstinitiierten Projekten setzt. Das Wissen und die Ziele von Akteuren der lokalen Zivilgesellschaft können somit in Projekten genutzt werden.

In der zivilen Konfliktbearbeitung werden solche Ansätze bereits umgesetzt. Beispielsweise unterstützt die Friedens- und Menschenrechtsorganisation Peace Brigades International Menschenrechtsverteidiger in Krisenregionen durch internationale Präsenz, unter anderem nach dem Prinzip der Nichteinmischung. Sie führt Projekte nur durch, wenn diese von lokalen Akteuren angefragt werden und mit den eigenen Leitlinien übereinstimmen.

Gleichzeitig müssen in einem oft undurchsichtigen internationalen Mosaik aus rechtlichen Grundlagen und politischen Zuständigkeiten Transparenz und Rechenschaft mehr Bedeutung gewinnen. Konkret bedeutet das den Ausbau von Informationsinfrastruktur, die ausführliche Daten zu Projekten leicht zugänglich macht. Zudem sollten Rechenschaftsmechanismen eingeführt werden, die über Ländergrenzen hinweg Gerechtigkeit garantieren. Ein Beispiel für einen solchen Mechanismus ist das World Bank Inspection Panel. Trotz der Kritik, nicht barrierefrei zu sein, hat es Bedenken von Betroffenen Gehör verschafft und zu einer sensibleren Gestaltung von Projekten beigetragen.


Gute(s) Leben innerhalb planetarer Grenzen

In Zeiten der Klimakrise weisen postkoloniale Perspektiven darauf hin, dass eine nachhaltige und gerechte Transformation des globalen Wirtschaftssystems notwendig ist. So wird beispielsweise der wirtschaftliche Erfolg eines Landes oder einer Region weithin mit Kennzahlen bewertet, die die begrenzten Ressourcen der Erde nicht berücksichtigen. Die Definition „planetarer Grenzen“ auf Basis von Berechnungen des Stockholm Resilience Centre zeigt eindrucksvoll, dass die Weltgemeinschaft insbesondere bei der Biodiversität und bei biochemischen Kreisläufen bereits an sehr kritische Grenzen gestoßen ist. Folglich ist weiteres Wachstum auf Basis materieller Ausbeutung nicht vertretbar.

Der Globale Norden hat im Allgemeinen schon durch das koloniale System und die Industrialisierung eine historisch gewachsene „Negativbilanz“ im Ressourcenverbrauch. Insbesondere im Hinblick auf Ungleichheiten zwischen Globalem Norden und Globalem Süden und der Konzentration von Vermögen in den Händen weniger braucht es Konzepte für faires Wirtschaften.

Auf der ganzen Welt gibt es bereits erprobte Konzepte, die eine Abkehr vom „maßlosen Wirtschaften“ darstellen und den Fokus auf soziales und ökologisches Wohlergehen legen. Dazu gehört das Prinzip des Buen Vivir, ein plurales Konzept des guten Lebens und der Vielfalt von Zusammenleben (siehe Philipp Altmann im Schwerpunkt des E+Z/D+C e-Paper 2020/09). Es basiert auf Werten, Erfahrungen und Praktiken indigener Gemeinschaften in Lateinamerika, vor allem in Ecuador und Bolivien. Das Konzept wurde in beiden Ländern in der Verfassung verankert, unter anderem in Form von Rechten der Natur oder im Grundrecht auf Wasser. Es gilt, die starke Orientierung an wirtschaftlichem Wachstum zu hinterfragen und gleichzeitig Modelle des Wirtschaftens und Zusammenlebens zu berücksichtigen, die den jeweiligen Orten angepasst sind. Auch in der Entwicklungszusammenarbeit sollte über die Verankerung alternativer Wirtschaftsformen gesprochen werden.

Letztlich ist es an der Zeit, eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeitsweise institutionell zu verankern. Erst das macht die praktische Umsetzung von postkolonialen und Post-Development-Perspektiven möglich.


Links

Global Tapestry of Alternatives:
https://globaltapestryofalternatives.org/

Global Partnership Network:
https://www.uni-kassel.de/forschung/global-partnership-network/about-us

EU COST Action Decolonising Development:
https://decolonise.eu/

Kornprobst, T. et al., 2020: Postcolonialism & Post-Development. Praktische Perspektiven für die Entwicklungszusammenarbeit. FES Stipendiaten Arbeitskreis Globale Entwicklung und postkoloniale Verhältnisse.
https://www.researchgate.net/publication/343547587_Postkolonialismus_Post-Development_Praktische_Perspektiven_fur_die_Entwicklungszusammenarbeit


Myriell Fußer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie und Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg.
development.transformation@gmail.com

Adrian Schlegel studiert im M.A. Programm Global Studies an der Jawaharlal Nehru University, der University of Pretoria und der Humboldt-Universität zu Berlin.

Tanja Matheis promoviert am Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaften der Universität Kassel.

Julia Fritzsche studierte Global Sustainability Science an der Universität Utrecht.

Florian Vitello ist Journalist, Digitalberater für Non-Profits, Gründer des Good News Magazins und Vorsitzender von MediaMundo e. V.