Entwicklung und
Zusammenarbeit

Elasticsearch Mini

Elasticsearch Mini

Menschliche Zivilisation

Warum wir eine UN-Charta brauchen

Die Digitalisierung kann nachhaltige Entwicklung vorantreiben oder hemmen. Um die Chancen für die Menschheit voll auszuschöpfen, müssen Politiker jetzt handeln.
Computers are becoming ubiquitous. Philippe Lissac/GODONG/Lineair Computers are becoming ubiquitous.

UN-Generalsekretär António Guterres betont immer wieder, dass es große Transformationen braucht, um eine Klimakatastrophe zu verhindern, Armut und Ungleichheiten zu verringern sowie den grassierenden Nationalismus einzudämmen.

Guterres Aussage belegen zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, die viele Fakten nennen. Die wahrscheinlich bedeutendsten und umfassendsten Ergebnisse hat bisher das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) geliefert. Die Wissenschaftsgemeinde hat klipp und klar gemacht, dass es einen tiefgreifenden Wandel braucht, um Nachhaltigkeit zu erreichen.

Im Nachhinein ist es bedauerlich und erstaunlich, dass das Thema Digitalisierung in keinem der bedeutenden internationalen Abkommen von 2015 auftaucht – weder im Pariser Klimaabkommen noch in der Agenda 2030 mit den 17 Sustainable Development Goals (SDGs). Dabei werden Künstliche Intelligenz (KI), maschinelles Lernen, virtuelle Realität und ähnliche Entwicklungen den technologischen Fortschritt revolutionieren und dürfen nicht ignoriert werden.

Der digitale Wandel wird positive Folgen haben, er kann aber auch den Nachhaltigkeitszielen schaden. Egal, ob bei der Armutsbekämpfung, der effizienten Rohstoffnutzung, in der Politik, im Energie- und Mobilitätssektor, im Arbeitsleben oder bei transnationalen Partnerschaften, die Digitalisierung wird die Gesellschaft und Wirtschaft tiefgreifend verändern (Sachs et al, 2019 ; WBGU, 2019).

Der ehemalige Google-Chef Eric Schmidt hat vorausgesagt, dass KI-Systeme in den kommenden fünf bis zehn Jahren nobelpreiswürdige wissenschaftliche Rätsel lösen werden. KI kann auch wegweisend für nachhaltige Entwicklung sein, vorausgesetzt die beiden Megatrends Digitalisierung und Nachhaltigkeit werden richtig verzahnt. Sie könnten das 21. Jahrhundert zum Besseren wenden und einen Wohlstand sichern, der nicht mehr auf übermäßigen Ressourcenverbrauch und Emissionsausstoß aufbaut. Sozialer Fortschritt und wirtschaftliche Entwicklung  könnten sich wieder gegenseitig begünstigen.

Der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU) hat kürzlich den umfassenden Bericht „Towards our Common Digital Future“ veröffentlicht (siehe Sabine Balk im Monitor des E+Z/D+C e-Papers 2019/07). Er betont zwei wichtige und gleichzeitig paradoxe Beobachtungen:

  • Das Potenzial digitaler Technologien, umweltfreundliche Wirtschaftssysteme zu schaffen, ist groß (sie begünstigen die Entkarbonisierung in vielen Branchen, können die Ressourcen- und Energieeffizienz massiv voranbringen, und sie könnten helfen, Ökosysteme besser zu überwachen und zu schützen), aber
  • die rasante Digitalisierung hat noch nicht die nötige Nachhaltigkeitswende gebracht. Stattdessen setzt sich umweltschädliches Wachstum fort, trotz oder gar angetrieben durch digitale Innovationen.

Das UN-Panel für digitale Kooperation (2019) und die Wissenschaftsinitiative “The World in 2050” haben jüngst die gleichen Schlüsse gezogen: Die Digitalisierung führt nicht automatisch zu mehr Nachhaltigkeit. Der Schlüssel liegt in der Politik, die jetzt schnell handeln muss, damit sich die Menschheit der Klimakrise stellen kann und die SDGs erreichbar bleiben. Digitale Innovationen und Nachhaltigkeitsprinzipien müssen miteinander verknüpft werden.

 

Technische Revolution

Eines vorab: Digitale Technologien sind nicht einfach Instrumente, die zur Lösung von Zukunftsfragen genutzt werden sollten. Es geht um viel mehr. Digitale Innovationen sind selbst Treiber fundamentalen Wandels. Unsere Gesellschaft erlebt einen derartig tiefgreifenden Wandel, wie es ihn seit der Erfindung der Druckerpresse und der Dampfmaschine nicht mehr gegeben hat. Für die Menschheit bricht eine neue Ära an, in der sich Paradigmenwechsel vollziehen. Begriffe, wie „menschliche Entwicklung“ und „Nachhaltigkeit“ werden neu definiert.

Wir müssen erkennen, dass die Digitalisierung nicht nur ein Segen ist. Sie ist ambivalent:

  • Einerseits kann sie umweltfreundliche Wirtschaftssysteme fördern und eine global vernetzte Gesellschaft ermöglichen.
  • Andererseits kann die Digitalisierung soziale Ungleichheit und Umweltzerstörungen weiter verschärfen und Gesellschaften destabilisieren.

Um die Gefahren richtig einzuschätzen, müssen wir schnell lernen. Der WBGU hat verschiedene systemische Risiken im digitalen Zeitalter identifiziert. Einige davon sind:

  • Digitale Technologien brauchen spezifische Ressourcen und kosten viel Energie. Ohne die Entkarbonisierung und die Hinwendung zu Kreislaufwirtschaften wird das bisherige Wirtschaftswachstum die ökologischen Grenzen des Planeten überschreiten. Kritische Wendepunkte werden erreicht; zum Beispiel wird sich die Eisschmelze in Grönland rasch beschleunigen.
  • KI und Big Data werden den Arbeitsmarkt komplett umkrempeln. Nicht nur viele Fabrikarbeiter werden überflüssig, sondern auch hochqualifizierte Fachkräfte wie Anwälte, Buchhalter und Ingenieure. Bisher hat noch kein Land Systeme zur sozialen Sicherung entwickelt, die diesen Herausforderungen Paroli bieten könnten. Unsere Wirtschafts- und Bildungssysteme sind genauso wenig vorbereitet.
  • Smarte Technologien können jeden orten. Big-Data-Analysen und soziale Kontrollsysteme können genutzt werden, um das Verhalten Einzelner und der Gesellschaft zu prognostizieren, zu manipulieren und zu überwachen. Dort, wo der digitale Wandel autoritären Kräften dient, sind Demokratie, Freiheit und Menschenwürde in Gefahr.
  • Nationale Wissenschaftssysteme müssen sich anpassen. Die digitale Revolution eröffnet viele Chancen. Das 21. Jahrhundert schafft die Infrastruktur, die uns erlaubt, die volle Komplexität des technologischen Wandels zu verstehen und entsprechend darauf reagieren zu können. Wissenschaftliche Institutionen tun sich allerdings schwer, sich den neuen Chancen und Herausforderungen anzupassen. Digitalisierungsforschung muss sich mit vielen Disziplinen vernetzten, um den technologischen Wandel in nachhaltige Bahnen zu lenken. Gleichzeitig wird die Wissenslücke zwischen dem globalen Norden und Süden immer größer. Dieser Trend muss gestoppt werden, da er nicht nur Entwicklungsländern schaden wird, sondern auch der gesamten internationalen Gemeinschaft.
  • Die Kombination aus KI, Big-Data-Analysen und Erbgut- und Gehirnforschung bergen neue Chancen der Krankheitsbekämpfung, etwa bei Alzheimer oder Epilepsie, aber auch völlig neue Herausforderungen. Mithilfe technischer Systeme können Menschen ihre körperliche, kognitive und psychologische Leistung optimieren – die Experten sprechen von „Human Enhancement“. Dafür braucht es ethische Grundregeln, die viel weiter als bis 2030 gedacht werden müssen. Die hat bis jetzt noch niemand formuliert. „Menschliche Entwicklung“ muss unter den Bedingungen dieser technologischen Disruptionen neu definiert werden.


Wir müssen uns wappnen

Wir sind nicht genügend auf diese Herausforderungen vorbereitet. Unter anderem nutzt auch die Wissenschaft die Instrumente der digitalen Revolution nicht voll aus. Die Nachhaltigkeitswissenschaft hat zu wenig Schnittpunkte mit der Technologieforschung. Wir wissen beispielsweise noch zu wenig über die Folgen der Digitalisierung für öffentliche Einrichtungen, einschließlich multilateraler Organisationen, wie die UN. Es ist bisher noch nicht erforscht worden, wie nachhaltige und digitale Transformationen miteinander verknüpft werden können. Es fehlt zudem eine öffentliche Debatte darüber, wie ein humanistisch geprägtes digitales Zeitalter aussehen soll. An diesem Diskurs sollten nicht nur Politiker teilnehmen, sondern auch Unternehmen, Wissenschaftler und die Zivilgesellschaft. 

Wir müssen schnell handeln und starke technologische Innovationen für nachhaltige Entwicklung nutzen. Deshalb hat sich der WBGU mit anderen wissenschaftlichen Organisationen vernetzt. Dazu gehören der International Science Council, Future Earth, die UN-Universität sowie verschiedene Partner in Asien und Afrika. Wir haben auf dem UN-Klimagipfel in New York im September unseren Entwurf für eine UN-Charta für ein nachhaltiges digitales Zeitalter vorgestellt. Sie heißt „Our Common Digital Future“ und dient als Basis für einen globalen Diskurs zwischen Wissenschaftlern, politischen Entscheidungsträgern, Aktivisten und Bürgern.

Die globale Charta muss drei Elemente enthalten:

  • Die Digitalisierung muss den Zielen des Klimaabkommens von Paris und der Agenda 2030 dienen.
  • Systemische Risiken müssen vermieden werden.
  • Jedes Land muss sich auf ein nachhaltiges, digitales Zeitalter vorbereiten. Das setzt Reformen im Bildungssystem voraus, die verstärkte Forschung in relevanten Bereichen und die Einhaltung ethischer Grundsätze.

Die vorläufige Charta wurde auf verschiedenen Websites zur Diskussion und Kommentierung veröffentlicht. Ihr liegen die Menschenrechtserklärung, die Agenda 2030 und das Pariser Klimaabkommen zugrunde. Weil die Zukunftsthemen Digitalisierung und Nachhaltigkeit so allumfassend sind, sollte es 2022 die UN-Konferenz „Our Common Digital Future“ geben. Sie würde genau 30 Jahre nach dem UN-Gipfel in Rio de Janeiro tagen.


Heide Hackmann ist Geschäftsführerin des International Science Council.
ceo@council.science

Dirk Messner ist Ko-Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats Globale Umweltveränderungen (WBGU) der Bundesregierung und Direktor des Instituts für Umwelt und menschliche Sicherheit der UN-Universität (UNUEHS) in Bonn. Ab Januar 2020 wird er Präsident des Umweltbundesamtes.
messner@ehs.unu.edu


References

IPCC, 2018: Global warming of 1,5 C. Geneva.
IPCC, 2019: The ocean and the cryosphere in a changing climate. Geneva.
Sachs, J., Schmidt-Traub, G., Mazzucato, M., Messner, D., Nakicenovic, N., Rockström, J., 2019: Six transformations to achieve the Sustainable Development Goals. Nature Sustainability, Vol. 2, September, 805-814.
The World in 2050, 2019: The digital revolution. Vienna, IIASA.
WBGU, 2019: Towards our common digital future. Berlin, WBGU.
UN High-level Panel on Digital Cooperation, 2019: The age of digital interdependencies. New York, UN.