Starke Richter
Langer Weg zur Unabhängigkeit
2010 hat Kenia eine neue Verfassung verabschiedet. Anlass war die grausame Gewalt nach den Wahlen von 2007/08, bei der Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen aneinandergeraten waren. Die neue Verfassung sollte die tief gespaltene Nation versöhnen – auch mithilfe einer starken und unabhängigen Justiz.
Seit der Kolonialzeit waren die kenianischen Gerichte meist auf Regierungslinie gewesen. Seit der neuen Verfassung aber geht es darum, eine unabhängige Justiz aufzubauen. Der radikale und kostspielige Reformprozess kam jahrelang nur langsam, aber entschlossen voran. Als der Oberste Gerichtshof im vergangenen Jahr die Präsidentschaftswahlen annullierte (siehe Kasten), traf das die Reformen wie ein politischer Wirbelsturm, denn auf die umstrittene Entscheidung folgten wütende Reaktionen. Viele Kenianer begrüßten jedoch, wie ernsthaft die Richter für die verfassungsmäßigen Standards kämpfen.
Heute gehen die Reformbemühungen mühsam voran, wobei zwei wichtige Ereignisse – offensichtlich Reaktionen auf die Annullierung der Wahlen durch den Obersten Gerichtshof – sie ausbremsten:
- Die kenianische Regierung brach ihre Beziehungen zur International Development Law Organization (IDLO) ab, einer zwischenstaatlichen Organisation, die Justizreformen unterstützt. Die IDLO hatte den Großteil des Kapazitätsaufbaus in Kenia in diesem Bereich finanziert, inklusive Schulungen für Richter, Magistrate und Justizbeamte.
- Die Regierung verweigerte der Justiz mehr als die Hälfte der beantragten Gelder.
Die IDLO ist eine unparteiische Organisation. Sie wurde von 34 Regierungen von Ländern ins Leben gerufen, die so unterschiedlich sind wie China, Italien und der Senegal. Sie steht den UN nahe und wird unter anderem von der EU und der Bill and Melinda Gates Foundation finanziert. Ihr Ziel ist die Förderung von Rechtsstaatlichkeit.
Regierungsnahe Politiker und Blogger beschuldigten die IDLO jedoch, sie habe sich nach der Wahlannullierung in Kenias Rechtssystem einmischen wollen. Die IDLO bekam den Befehl, ihre Aktivitäten umgehend einzustellen. In nationalen Zeitungen wurden Richter bedroht und verleumdet, Justizbeamte wurden öffentlich diffamiert.
Für das laufende Haushaltsjahr beantragte das Justizwesen ein Budget von 31 Milliarden kenianischer Schilling (310 Millionen Dollar). Die Staatskasse stellte nur 17,3 Milliarden Schilling zur Verfügung, und die Nationalversammlung reduzierte diese Summe weiter auf 14,5 Milliarden – nicht einmal die Hälfte des Beantragten.
Kenias Oberster Richter David Maraga akzeptierte das nicht. „Die Justiz existiert nicht um ihrer Selbst willen, sondern dient dem Bürger. Sie sorgt für eine effiziente Justizverwaltung und ermöglicht reibungslose Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen“, sagte er nach Genehmigung des Budgets im Juli 2018. Er sprach von „Haushaltsstrangulation“ und warnte, die Gerichte könnten bald ihren Job nicht mehr machen. Mit seinem Appell erzwang er die Aufstellung eines Nachtragshaushalts, den die Nationalversammlung auch billigte. Das Justizwesen erhielt zusätzliche 1,5 Milliarden Schilling, womit der Gesamtbetrag auf 16 Milliarden stieg – knapp mehr als die Hälfte des geforderten Budgets und unzureichend für den Bedarf.
Richter Maragas angespanntes Verhältnis zur Regierung Uhuru Kenyattas ist kein Geheimnis. Das Staatsoberhaupt wurde bei den zweiten Wahlen im Jahr 2017 im Amt bestätigt – allerdings ohne Gegenkandidaten, weil die Opposition die Wahl boykottiert hatte. Politisch bleiben damit viele Frage offen, unter anderem nach der Legitimität von Kenyattas Präsidentschaft und welche Verantwortung die Opposition an seinem Amtserhalt hat.
Maraga versicherte dem Land aber, dass die Verfassung so ausgelegt sei, dass sie mit Spannungen zwischen verschiedenen Regierungszweigen umgehen könne und dass er entschlossen sei, für eine unabhängige Justiz zu kämpfen. Die Wahlentscheidung des Obersten Gerichtshofs kam in anderen afrikanischen Ländern sowie international gut an, Magaras Autorität hat das gestärkt.
Tatsächlich gab es in den letzten Jahren beachtliche Fortschritte. Die justizielle Infrastruktur hat sich langsam, aber stetig verbessert. Es gibt nun mehr Gerichte mit mehr Beamten und besserer Ausstattung. Verhaltensregeln wurden veröffentlicht, Richter überprüften die kenianischen Gesetze, um sicherzustellen, dass sie der neuen Verfassung entsprechen. Der wachsende Einfluss unabhängiger Gerichte half zudem, internationale Investoren anzulocken, die Rechtsstaatlichkeit schätzen.
Schon vor Annullierung der Wahlen hatte die Justiz begonnen, ihre Bedeutung geltend zu machen. In dutzenden Fällen setzten die Richter Gesetze außer Kraft, die die Exekutive gegen die Legislative durchgesetzt hatte. Damit verhinderten die Gerichte drakonische Verfassungszusätze, die Freiheit und Privatsphäre der Bürger unter dem Vorwand von Sicherheit und Terrorismusbekämpfung gefährdet hätten. Die Gerichte schützten auch die Medienfreiheit und die Unabhängigkeit des Obersten Rechnungsprüfers. Die Öffentlichkeit begrüßte das, denn die Menschen begreifen, dass die Justiz die verfassungsmäßigen Prinzipien verteidigt.
Ein weiter Weg
Die Justiz hat natürlich noch einiges zu tun. Die große Frage ist, wie mit Korruption und Straflosigkeit umzugehen ist. Sie treten meist im Doppel auf und haben das Potenzial, bei den Bürgern eine gefährliche Apathie auszulösen. Selbst Präsident Kenyatta fordert von den Gerichten eine Lösung dafür.
Maraga ist sich der Tragweite bewusst und hat eine Sonderabteilung für Korruptionsfälle eingerichtet. Zu den Mitgliedern der Anwaltsvereinigung des Landes sagte er im August 2018: „Wir sagen entweder nein zu Straflosigkeit und erlangen Wohlstand, oder wir schweigen und gehen zugrunde.“
Natürlich müssen die Gerichte gewissenhaft arbeiten und solide Urteile fällen. Im September 2018 kam das neue Strafverfahrensbuch heraus, ein juristisches Handbuch zur Umsetzung der jungen Verfassung. Maraga hält es für einen weiteren Schritt hin zu einer „zweckmäßigen, robusten, bodenständigen und patriotischen Rechtsprechung, die Werte, Prinzipien und Ziele aller Kenianer widerspiegelt“.
Maraga weiß, dass Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden müssen, und fordert die Kenianer auf, dazu beizutragen. Er warb dafür, wachsam zu sein hinsichtlich Korruption und Straflosigkeit und betonte die wichtige Rolle von Medien, Zivilgesellschaft und Bürgern. Der Oberste Richter warnte auch, die Verfassung sei „hohl“, wenn Menschenrechte – inklusive sozioökonomischer Rechte – nicht geachtet würden.
Der Generalstaatsanwalt von Kenia, Paul Kihara, unterstützt diese Ansicht. „Die Justiz muss verfassungsrechtlich und operativ unabhängig sein“, sagte er. „Die Entscheidung des Gerichts muss von allen respektiert werden, egal wie mächtig oder einflussreich sie auch sein mögen.“ Er betonte, Richter und Magistrate „sollten auf Grundlage von Recht und Recht allein entscheiden können“.
Politische Entscheidungsträger neigen jedoch zu Rachsucht. Die Justiz bekämpft zweifelsohne tiefgreifende systemische Probleme und hat sich durch die Wahlannullierung neue Feinde gemacht. Ein ernstes Problem ist auch, dass viele Fälle auf Bearbeitung warten. Bei der letzten Zählung waren mindestens 110 000 Fälle seit mehr als fünf Jahren anhängig. Man hoffte, die Zahl würde bis Ende 2018 auf null sinken, aber dem stand das gekürzte Budget entgegen. Auch der Ausbau der Infrastruktur – die landesweite Einrichtung neuer Gerichte und Verbesserung der IT-Netzwerke – zieht sich wegen Geldmangels hin.
Die größte Herausforderung aber ist wohl, dass die Justiz selbst als glaubwürdig angesehen wird. Dass Philomena Mbete Mwilu, stellvertretende Oberste Richterin, der Bestechung beschuldigt wurde und vor Gericht muss, ist wenig hilfreich. Noordin Hadsch, der Direktor der Staatsanwaltschaft, hat Anklage gegen sie erhoben. Mwilu beteuert ihre Unschuld und sagt, die angeblich korrupten Transaktionen seien rein geschäftlich und völlig korrekt gewesen.
Für die Justizdienstkommission, die die Gerichte kontrolliert, ist der Fall ein Alptraum. Nach der Wahlannullierung riecht die Klage der Obersten Staatsanwaltschaft nach Rache. Ihr ursprünglicher Plan diesbezüglich war geradezu lächerlich: Niederrangige Richter sollten den stellvertretenden Obersten Richter anklagen. Schließlich entschied Maraga als Oberster Richter, eine spezielle Gruppe aus fünf Richtern dafür einzusetzen. Das ganze Verfahren ist jedoch schräg, weil die betroffenen Richter den Fall eines ihnen formal vorgesetzten Richters entscheiden müssen.
Die Kenianer beobachten genau, wie die Justiz den Prozess gegen einen der Ihren führt. Was sie sehen wollen, ist Fairness, Rechtstreue und nicht zuletzt Gerechtigkeit.
Alphonce Shiundu ist ein kenianischer Journalist, Redakteur und Faktenchecker in Nairobi.
https://twitter.com/Shiundu