Extremismus
„Wer unschuldige Menschen umbringt, ist kein Märtyrer“
Über 20 000 Freiwillige aus dem Mittleren Osten und Nordafrika aber auch Europa sind in den letzten Jahren nach Syrien gereist, um ISIS zu unterstützen. Die Motive der Jugendlichen seien sehr unterschiedlich, sind sich die Experten einig. Dennoch gebe es Parallelen, denn ISIS versuche jene zu erreichen, die geschwächt, frustriert oder schlecht integriert seien.
Der Imam Husamuddin Meyer ist Gefängnisseelsorger in einem deutschen Jugendgefängnis. Er berichtet, dass die Radikalisierung dort zunehme. Religiöse Extremisten redeten den Jugendlichen ein, dass sie nach all ihren Vergehen der Hölle nur noch entkommen könnten, wenn sie etwas Großes leisteten. In den Krieg zu ziehen oder gar ein Selbstmordattentat zu begehen seien Möglichkeiten. Außerdem setzten sie häufig bei den Identitätsproblemen von Jugendlichen aus Migrantenfamilien an, die sich oft weder in Deutschland noch im Heimatland der Eltern dazugehörig fühlen. ISIS biete ihnen eine Art übernationale Identität sowie die Chance, bei „etwas Großem“ – der Wiederauferstehung des Kalifats – teilzuhaben.
Bei einer gemeinsamen Veranstaltung von Frankfurter Rundschau und Deutscher Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) beklagte Meyer im September, dass muslimische Bildung in Deutschland zu selten auf deutsch stattfinde. Folglich bleibe die junge Generation der Muslime, die hierzulande aufgewachsen sei, ausgeschlossen. Mangelnde religiöse Bildung sei jedoch ein Einfallstor für Extremisten. Jugendliche Häftlinge fragten ihn beispielsweise oft, ob der Islam Terrorismus erlaube. „Aber natürlich ist Terrorismus im Islam nicht erlaubt – und wer unschuldige Menschen umbringt, ist auch kein Märtyrer,“ so Meyer.
Neben religiöser Bildung sei persönliche Unterstützung wichtig, argumentiert er: „Wenn wir es schaffen, dass Jugendliche ein bisschen mehr Selbstachtung bekommen, sinkt die Gefahr von Radikalisierung und Gewalt deutlich.“
In Afghanistan buhlen diverse radikale Gruppierung um Anhänger. Masood Karokhail leitet die NGO „Liaison Office“. Er weist auf die Taliban hin, die große Teile des Landes kontrollieren. Außerdem gebe es eine Reihe neuer Gruppierungen. ISIS sei aber besonders gut organisiert und bringe viel Geld in ein armes Land. Die instabile Lage des Landes gäbe den Extremisten viel Raum, besonders in ländlichen Gebieten. Der Staat, aber auch die Zivilgesellschaft seien überfordert.
Besonders bekümmert Karokhail der Trend zu Radikalisierung an Universitäten. Es sei nötig, mit radikalisierten Jugendlichen aus religiöser Perspektive zu diskutieren: „Wir müssen die Zusammenarbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen mit religiösen Instanzen fördern.“ Er sagt, westliche Geber sollten das unterstützen.
In Jordanien steigen die Flüchtlingszahlen, was zu steigenden Spannungen führt, wie Gudrun Kramer von GIZ berichtet. Ohnehin lebten bereits viele palästinensische Flüchtlinge in dem 6-Millionen-Einwohner Land. Seit Ausbruch des Konflikts im Nachbarland seien über 600 000 Flüchtlinge hinzu gekommen. Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR rechnet damit, dass die Zahl bis Ende des Jahres auf eine Million steigen wird. Anfangs habe die Bevölkerung sich solidarisch gezeigt, doch seitdem immer mehr Menschen auf den Arbeitsmarkt strömten, die Lebenshaltungskosten und die Mieten steigen, steige auch die Gewaltbereitschaft, sagt Kramer. Wegen ihrer schwachen Sozialstrukturen böten Flüchtlingslager Extremisten Chancen; ISIS sei da nur eine extremistische Organisation unter mehreren.
Ähnlich schätzt Kramer die Lage im Libanon ein. Dort siedelten sich radikale Akteure gerne in UN-Lagern an, weil sie dort nicht unter der Kontrolle des libanesischen Staates unterstehen. Doch lange nicht alle Jugendlichen möchten sich den Extremisten anschließen, sagt sie: „Palästinensische Jugendliche zum Beispiel träumen oft in erster Linie von einem palästinensischen Staat, nicht vom Kalifat.“
Eva-Maria Verfürth