Migration
Tote an der Außengrenze
Seit Jahren werden die Maßnahmen zur EU-Grenzsicherung verschärft und die Gelder dafür aufgestockt. Die Begründung dafür lautet immer gleich: dass diese Aktionen einen wirksamen und notwendigen Beitrag zur inneren Sicherheit Europas leisteten.
Um die Sicherheit der Migranten geht es dabei weniger. Die Menschen, gegen die sich das EU-Grenzregime richtet, sind in der Regel über mehrere Jahre unterwegs. Oft flüchten sie vor Bürgerkriegen wie in Syrien oder Somalia, setzen sich dabei der ständigen Gefahr aus, entführt, ausgeraubt, eingesperrt oder gar umgebracht zu werden. Dabei treffen sie auf unterschiedliche Manifestationen eines umfassenden Überwachungs- und Sicherungsregimes.
Physische Barrieren wie die Grenzzäune zwischen Griechenland oder Bulgarien und der Türkei oder um die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Nordafrika sind nur die sichtbarsten Elemente einer viel breiteren Strategie zur Migrationsabwehr. Zu ihr gehören hochkomplexe technologische Apparate, die von großen europäischen Rüstungskonzernen entwickelt und verkauft werden. So sammelt zum Beispiel das europäische Grenzüberwachungssystem EUROSUR mittels Drohnen, Radaraufzeichnungen, Satellitenbildern und Aufklärungsflugzeugen Informationen über Migrationsbewegungen im Mittelmeerraum.
Mit ihrer Hilfe können bewaffnete Patrouillen Migrantengruppen gezielt aufgreifen, manchmal um sie aus Seenot zu retten, manchmal auch um völkerrechtswidrige „Push-back“-Operationen durchzuführen: Boote werden von ihrem Kurs abgedrängt oder in lebensbedrohlichen Manövern außerhalb europäischer Hoheitsgewässer geschleppt. Menschenrechtsorganisationen dokumentierten, wie die griechische Küstenwache in der Ägäis Flüchtlingsboote im Zuge solcher Einsätze zerstörte oder schwer beschädigte und die Insassen ertranken. Wenn sie überleben, haben die Flüchtlinge in der Regel keinerlei Handhabe, um auf rechtlichem Weg gegen diese gewaltsame Zurückschiebung vorzugehen.
Jenseits der europäischen Außengrenzen erfolgt die Bekämpfung von Migration im Rahmen einer „Vorverlagerungsstrategie“ durch die zielgerichtete Unterstützung des Grenzschutzes in den sogenannten Transitstaaten. Einerseits geschieht dies durch die Ausbildung lokaler Sicherheitskräfte, etwa durch deutsche Bundespolizisten im autokratischen Belarus oder – als offizielle EU-Mission – im bürgerkriegsgeplagten Libyen. Andererseits genehmigen EU-Mitglieder milliardenschwere Rüstungsgeschäfte für den Export von Waffensystemen und Sicherheitstechnologien, vor allem nach Nordafrika. Mit Materialpaketen aus Deutschland werden zum Beispiel in Algerien um die 1000 Radpanzer hergestellt, die sich besonders zur Grenzsicherung eignen.
Migrationsabwehr mit allen Mitteln
Die Koordination und Steuerung vieler Maßnahmen zur Bekämpfung „irregulärer“ Migration obliegt Frontex, der 2004 gegründeten Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der EU. Mit Sitz in Warschau beschäftigt sie derzeit mehrere hundert Mitarbeiter. Sowohl das Mandat als auch das Budget von Frontex haben über die letzten zehn Jahre eine bemerkenswerte Ausweitung erfahren. Die jährliche Finanzierung aus den Töpfen der Mitgliedstaaten kletterte von rund 6 Millionen Euro im Jahr 2005 auf 114 Millionen Euro 2015.
Das Aufgabenfeld umspannt die Erstellung nachrichtendienstlicher Risikoanalysen, die Planung und Koordinierung gemeinsamer Einsätze von EU-Mitgliedern, die Aus- und Weiterbildung von Grenzschutzpersonal, die Unterstützung von Sammelabschiebungen und das Aushandeln von Kooperationsvorhaben mit Staaten außerhalb der EU. Seit 2007 kann Frontex auf Anfrage eines Mitgliedstaats auch sogenannte „Soforteinsatzteams“ entsenden, um den örtlichen Grenzschutz zu unterstützen. Für einen begrenzten Zeitraum verfügen Frontex-Mitarbeiter dann über hoheitliche Befugnisse. Beim ersten dieser Einsätze im Jahr 2010 wurden Menschen offenbar mit Schüssen daran gehindert, sich der griechisch-türkischen Landesgrenze zu nähern.
Die Rettung von Menschen – etwa von in Seenot geratenen Schiffen – spielt allem Anschein nach nur eine nachgeordnete Rolle. Zwischen 2000 und 2013 starben etwa 27 000 Menschen beim Versuch, das Hoheitsgebiet der EU zu erreichen, wie ein europäisches Journalistennetzwerk („Migrants Files“) errechnet hat. Das Leid und Sterben an Europas Außengrenze erreichen selten ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit.
Eine Ausnahme waren zwei Bootsunglücke im Oktober 2013 – eines davon unmittelbar vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa – bei denen mehrere hundert Flüchtlinge innerhalb von nur einer Woche ertranken. „Lampedusa“ stand fortan für eine verfehlte europäische Politik im Umgang mit „irregulärer“ Migration über das Mittelmeer. In ganz Europa reagierten Menschen betroffen; Papst Franziskus sprach von einer „Schande“.
Eine Reaktion auf diesen Schock war „Mare Nostrum“, eine Operation der italienischen Marine, die zwischen Oktober 2013 und November 2014 mehr als 100 000 Flüchtlinge im gesamten Mittelmeerraum rettete. Da die anderen EU-Mitgliedstaaten sich jedoch weigerten, die monatlich anfallenden Kosten von rund 10 Millionen Euro mitzutragen, stellte die italienische Regierung den Rettungseinsatz Ende 2014 ein. Im Februar 2015 gab es, als dieser Beitrag fertiggestellt wurde, denn auch wieder in der Nähe von Lampedusa ein Seeunglück mit mindestens 29, vielleicht aber auch mehreren Hundert Toten, wie die Zeitungen berichteten.
Die europäischen Seegrenzen um Italien werden seitdem von Frontex gesichert: Mit einem monatlichen Budget von 2,9 Millionen Euro und 65 Mitarbeitern deckt die Operation „Triton“ die Seegebiete südlich von Sizilien und der Pelagischen Inseln sowie die Küstengewässer um Kalabrien ab. Sie ist vom Einsatzradius deutlich kleiner als „Mare Nostrum“, deren Kräfte bis 15 Kilometer vor der libyschen Küste agierten, von wo aus die oft seeuntüchtigen Boote der Flüchtlinge in der Regel starten.
Tödliche Grenzsicherung
Im April 2014 verabschiedete das Europäische Parlament eine Verordnung, der zufolge die gefährlichen Push-back-Aktionen grundsätzlich zu vermeiden sind. Sollten die Beamten aber spontan entscheiden, dass aufgegriffene Migranten kein Anrecht darauf haben, einen Asylantrag zu stellen, dann können diese nach wie vor in ein anderes Land „eskortiert“ werden.
Die Bewertungen dieser Verordnung gehen weit auseinander: Während Befürworter von einem wichtigen Schritt zur Einhaltung menschenrechtlicher Verpflichtungen sprechen, vertreten Menschenrechtsorganisationen die Meinung, dass die zuvor eindeutig illegalen „Push backs“ auf diese Weise legalisiert würden. Zudem kollidieren die Vorschläge mit der Realität der Einsätze: Heimlich gedrehte Filmaufnahmen zeigten kürzlich die griechische Küstenwache beim Einsatz in der Ägäis. Ein Grenzbeamter brüllt in Richtung des Flüchtlingsboots: „Don’t make a move, I’ll kill you!“ Die Priorität liegt nicht in der humanitären Seenotrettung, sondern in der Verstärkung der Grenzüberwachung und der Abwehr „irregulärer“ Migration.
Diese Schwerpunktverlagerung ist umso problematischer, als die Zahl der Flüchtlinge, die an Europas Außengrenzen zu Tode kommen, von Jahr zu Jahr steigt. 2014 ertranken laut UNHCR mehr als
3400 Flüchtlinge im Mittelmeer – so viel wie in keinem Jahr zuvor. Experten der intergouvernementalen International Organisation for Migration gehen sogar davon aus, dass die gefundenen Leichen nur ein Drittel aller Toten ausmachen, die tatsächliche Opferzahl also weit höher liegt.
Teilweise wird vermutet, die italienische Marine hätte durch ihre Rettungsaktivitäten zu dieser Entwicklung beigetragen, da nunmehr besonders viele Menschen versucht hätten, das vermeintlich sichere Mittelmeer zu überqueren. Der wirkliche Grund könnte jedoch in der zunehmenden Versiegelung der Migrationsrouten über Land sowie in der insgesamt gestiegenen Zahl der Flüchtlinge liegen. Immer mehr Einwanderer sehen sich dazu gezwungen, den gefährlicheren Seeweg einzuschlagen. Sie sterben dann nicht trotz, sondern indirekt wegen der EU-Maßnahmen zur Sicherung der Außengrenze.
Hier liegt denn auch der eigentliche Skandal: Die EU und ihre Mitglieder begreifen Flüchtlinge und Migranten in erster Linie als ein Sicherheitsproblem, dem es mittels technischer – und oft gewaltsamer – Maßnahmen zu begegnen gilt. Die Tausenden Menschen, die jedes Jahr an den europäischen Außengrenzen ihr Leben verlieren, viele davon auf einem der wahrscheinlich am stärksten überwachten Meere der Welt, sind von nachrangiger Bedeutung, schlimmstenfalls werden sie schlicht in Kauf genommen. Wenn 2015 kein grundlegendes Umdenken einsetzt, dann gibt es – so ist zu befürchten – einen neuen, schrecklichen Rekord an Toten.
Marc von Boemcken ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bonn International Center for Conversion (BICC) in Bonn.
boemcken@bicc.de
Ruth Vollmer ist ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bonn International Center for Conversion (BICC) in Bonn. Dieser Beitrag beruht auf einem ausführlicheren Essay, den die beiden Autoren im Friedensgutachten 2014 (LIT-Verlag, Münster) veröffentlicht haben.
vollmer@bicc.de
Links:
International Organisation for Migration: Fatal journeys.
http://publications.iom.int/bookstore/free/FatalJourneys_CountingtheUncounted.pdf
Migrants Files: Database on more than 27,000 migrants who died on their way to Europe.
https://www.detective.io/detective/the-migrants-files
UNHCR: Global refugee numbers.
http://www.unhcr.org/53a155bc6.html
Death in the Mediterranean Sea:
http://www.unhcr.org/531990199.pdf