Schwer getroffenes Land

Erneute Belastungsprobe für Nepal

Seit in Nepal am 23. März der Lockdown begonnen hat, herrscht auf den Straßen Kathmandus eine gespenstische Atmosphäre. Die Menschen dürfen ihre Häuser nur verlassen, um Lebensmittel zu kaufen. Die Wirtschaft befindet sich im freien Fall.
Viele Tauben, aber keine Touristen: der Durbar-Platz in Kathmandu Mitte Mai. Narayan Maharjan/picture-alliance/NurPhoto Viele Tauben, aber keine Touristen: der Durbar-Platz in Kathmandu Mitte Mai.

Zahllose Tagelöhner haben ihre Jobs verloren, für sie und ihre Familien geht es bereits um das nackte Überleben. Schätzungen zufolge sind rund 60 Prozent aller Arbeitsplätze verschwunden. Auch der Tourismus, der 2018 acht Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) beigetragen und für mehr als eine Million Arbeitsplätze gesorgt hatte, ist zum Erliegen gekommen. Eine Aussicht auf Besserung gibt es noch nicht.

Die Nepalesen sind Leid gewohnt. In den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten mussten sie einen maoistischen Aufstand, eine schier endlose Verfassungsdiskussion und das verheerende Erdbeben von 2015 wegstecken. Es gab aber auch positive Entwicklungen: Die progressive neue Verfassung steht, und 2017 wurden erfolgreich Wahlen auf kommunaler, Provinz- und Bundesebene abgehalten. Die Kapazitäten der Regierung sind jedoch nach wie vor begrenzt und die Herausforderungen aktuell riesig.

Zunächst sah es so aus, als könnte Nepal mit ein paar vereinzelten Covid-19-Fällen davonkommen. Aber in letzter Zeit steigen die Infektionszahlen. Noch immer handelt es sich um hunderte von Fällen, von denen die meisten auf zurückkehrende Wanderarbeiter aus Indien zurückzuführen sind. Die Antwort der Regierung bestand darin, den Lockdown Woche um Woche zu verlängern.

Diese Strategie konnte das Virus allerdings nicht stoppen. Die Schließung der Grenze zu Indien zeigt zudem Nebenwirkungen: Nepal hängt von zahlreichen Importen aus Indien ab. Auch Indien kämpft mit Covid-19 und hat unter anderem die Ausfuhr von Reis eingestellt. Die Nahrungsmittelpreise in Nepal sind merklich gestiegen. Angesichts dessen, wie sehr die Leute unter dem Lockdown leiden, ist es fraglich, wie lange er noch aufrechtzuerhalten ist.

Die praktischen Herausforderungen sind groß: Sie reichen von fehlender Schutzausrüstung für medizinisches Personal bis hin zu Gemüse, das auf dem Feld verrottet. Doch die größte Herausforderung steht noch bevor: Bis zu 4 Millionen Nepalesen arbeiten im Ausland, die meisten in Indien, Malaysia und den Golf-Staaten. Ihre Rücküberweisungen machen ein Drittel von Nepals BIP aus. Im April sind die Zahlungen um mehr als die Hälfte eingebrochen.

Ein weiteres Problem: Die Arbeitsmigranten leben oft unter katastrophalen Bedingungen und sind deshalb besonders gefährdet, sich mit dem neuartigen Coronavirus anzustecken. Mehr als 12 000 Nepalesen haben sich bereits im Ausland infiziert. Zehntausende haben ihre Arbeit verloren und warten verzweifelt darauf, nach Hause zurückkehren zu können. Eine Rückholaktion dieses Ausmaßes ist für das Land nahezu unmöglich zu stemmen. Arbeitsplätze waren zudem schon vor der Pandemie rar, und Rückkehrer werden für zusätzlichen Druck auf dem Arbeitsmarkt sorgen. Auch in Bezug auf Investitionen, Handel und Konsum sind die Aussichten wenig rosig.

Trotz der bislang vergleichsweise niedrigen Infektionszahlen ist Nepal schwer von der Coronakrise getroffen. Möglicherweise braucht es eine ganz neue Entwicklungsstrategie. Die politische Diskussion dreht sich im Moment um die Rolle der Landwirtschaft. Investitionen in diesen Bereich wären in der Tat ein guter Anfang, könnten die Ernährungssicherheit verbessern und die Abhängigkeit von Importen reduzieren. Die Ambitionen von 30 Millionen – überwiegend jungen – Menschen wird dies allein aber nicht befriedigen können. Die nepalesische Regierung wird neue Ideen entwickeln müssen.

Die Nepalesen können jetzt jegliche Unterstützung gut gebrauchen. Für sie kommt die Entscheidung der deutschen Bundesregierung, die bilaterale Zusammenarbeit mit Nepal im Kontext der Neuausrichtung der entwicklungspolitischen Strategie zu beenden, zur Unzeit. Viele Nepalesen haben das Gefühl, dass ein Freund sich in einer Zeit größter Not von ihnen abwendet.


Jonathan Menge leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kathmandu, Nepal.
fes@fesnepal.org