Armut

Großer Durchbruch

Im September 2015 hat die internationale Gemeinschaft mit dem ersten von 17 Sustainable Development Goals (SDGs) beschlossen, Armut in all ihren Formen überall zu beenden. Seit Oktober gilt außerdem eine neue internationale Armutsgrenze von 1,90 Dollar am Tag.
Die Qualität der Gesundheitsversorgung ist einer von vielen Faktoren, die Armut ausmachen: medizinische Untersuchung in einer Siedlung nahe der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh. kd Die Qualität der Gesundheitsversorgung ist einer von vielen Faktoren, die Armut ausmachen: medizinische Untersuchung in einer Siedlung nahe der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh.

SDG 1 fordert, extreme Armut bis 2030 auf der ganzen Welt vollständig zu beenden. Dabei bezieht sich die Weltgemeinschaft zum einen auf eine monetäre Armutsgrenze, zum anderen auf Dimen­sionen der Armut wie fehlender Zugang zu Land, zu sozialer Sicherung, zu Technologie und zu Finanzdienstleistungen.

Die SDGs werden zu Recht als großer Durchbruch bei der Definition und Messung von Armut gefeiert. Einigen Kritikern zufolge erweist der breit angelegte Ansatz den ärmsten der Armen aber einen Bärendienst. Die einzelnen Länder könnten sich aus der langen SDG-Liste herauspicken, was ihnen passt, und seien nicht gezwungen, die drängendsten Aspekte von Armut anzugehen (Klasen 2015).

Der wichtigste Indikator zur Armutsmessung ist und bleibt die von der Weltbank definierte Grenze, die sich in Dollar pro Tag und Person bemisst. Mit ihr kann Armut im zeitlichen Verlauf und über Re­gionen hinweg erfasst werden. Auf der Grundlage neuer Daten hob die Weltbank die internationale Armutsgrenze im vergangenen Jahr von 1,25 auf 1,90 Dollar an. Der neue Betrag hat die gleiche Kaufkraft wie 1,25 Dollar im Jahr 2005 und ein Dollar im Jahr 1985 (siehe Kasten).

Die Weltbank-Experten räumen ein, dass Definition und Messung nach wie vor eine große Herausforderung darstellen. Die Diskussion dreht sich vor allem darum, wie man den Lebensstandard unterschiedlicher Menschen miteinander vergleichen kann, die ganz verschiedene Güter und Dienstleistungen in den verschiedenen Währungen der Welt bezahlen (Ferreira et al. 2015).


Aktuelle Armutssituation

Der globale Monitoringbericht (Global Monitoring Report – GMR) 2015/16 der Weltbank beschreibt die aktuelle Situation wie folgt: Seit 1990 ist der Anteil der Weltbevölkerung, der unterhalb der in Dollar pro Tag definierten Armutsgrenze lebt, von fast 40 auf rund 10 Prozent gesunken. Allerdings leben noch immer etwa 700 Millionen Menschen unterhalb dieser Grenze. Ihre Anzahl wird bis 2030 auf schätzungsweise 340 bis 480 Millionen zurückgehen. Damit läge der Anteil der Weltbevölkerung, die in extremer Armut lebt, zwischen 4,2 und 5,7 Prozent. Die Weltbank strebt jedoch einen Anteil von unter drei Prozent an.

Die Weltbank beschäftigt sich aber nicht allein mit der Erfassung und Reduzierung extremer Armut. Es geht ihr auch um Messung und Ausweitung „geteilten Wohlstands“, also um Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens der ärmsten 40 Prozent eines Landes (siehe Artikel hierzu). Fortschritte sind hier allerdings nicht zu verzeichnen: In der Hälfte der hochverschuldeten und einem Drittel der mäßig verschuldeten Länder sinken die Einkommen der ärmsten 40 Prozent der Bevölkerung, statt zu steigen.


Drei Herausforderungen

Vor diesem Hintergrund identifiziert der Weltbank-GMR drei Herausforderungen: die Tiefe der Armut, die Ungleichverteilung von Wohlstand sowie die weiterbestehenden Ungleichheiten bei Entwicklungsdimensionen, die nicht am Einkommen gemessen werden. Die Autoren empfehlen:

  • anzuerkennen, dass Armut viele Dimensionen hat,
  • Bemühungen stärker auf die Ärmsten der Armen zu fokussieren,
  • für kontinuierliches Wachstum der Einkommen der unteren 40 Prozent der Bevölkerung zu sorgen,
  • die weitverbreiteten Chancenungleichheiten anzugehen,
  • Politiken zugunsten menschlicher Entwicklung und sozialer Sicherung einzuführen, und
  • die Nachhaltigkeit von Entwicklungsfortschritten mit Blick auf alle drei Dimensionen von Entwicklung zu prüfen (mit besonderer Beachtung von Umweltaspekten).

Neben der Herangehensweise der Weltbank, geteilten Wohlstand zu messen, verdienen zwei weitere Ansätze zur Armutsmessung Beachtung. Ökonomen wie Martin Ravallion und Andy Sumner sprechen sich für die Verwendung mehrerer Armutsgrenzen aus, während die Oxford Poverty and Human Development Initiative (OPHI) einen multidimensionalen Armutsindex (Multidimensional Poverty Index – MPI) entwickelt hat, der vom Human Development Index aufgegriffen wurde.


Mehrere Armutsgrenzen

Ravallion (2015) spricht sich für zwei Armutsgrenzen aus. Die erste sollte sich auf eine bestimmte minimale Kaufkraft über alle Länder hinweg beziehen, und die zweite sollte sich aus dem durchschnittlichen Einkommen eines jeden Landes errechnen.

Auch Sumner hält die Verwendung einer einzigen Armutsgrenze für nicht zielführend. Ihre Definition sei immer willkürlich, da eine Verschiebung der in Dollar pro Tag definierten Armutsgrenze um zehn Cent bedeute, dass 100 Millionen Menschen mehr oder weniger als extrem arm eingestuft werden. Sumner befürwortet daher die Verwendung mehrerer Armutsgrenzen bis hin zu einer 10-Dollar-pro-Tag-pro-Person-Grenze (Sumner: CGD Blog 11.5.2015).

Sumners Ansatz würde die Verteilung von Wohlstand stärker in den Mittelpunkt rücken. Armut kann nicht durch Wachstum allein reduziert werden. Vielmehr müssen Wachstumsgewinne verteilt werden. Sumner zufolge haben Wohlfahrtssysteme zwar positive Auswirkungen, aber „eine Welt ohne Armut und ohne das Risiko, in Armut (...) zurückzufallen, würde eine radikale Veränderung des heutigen Kapitalismus erfordern“ (Sumner: CGD Blog 9.9.2015).


Verschiedenen Dimensionen

Der MPI misst zehn Dimensionen von Armut in mehr als 100 Entwicklungsländern. Die aktuelle Messgröße (MPI2015+) misst verschiedene Formen und Dimensionen von Armut, die in den SDGs berücksichtigt werden. Dazu gehören unter anderem mangelnder Zugang zu sanitären Einrichtungen, Unterernährung und Qualität der Arbeit.

Der MPI liefert nicht nur Informationen über multidimensionale Armut innerhalb einzelner Bevölkerungsgruppen, sondern legt auch dar:

  • in welchen Hinsichten Menschen von Armut betroffen sind,
  • wo die Ärmsten leben (nach Regionen und sozialen Gruppen) sowie
  • wie groß die Entbehrungen („intensity of deprivations“) sind.

Je mehr relevante Informationen über Armut zur Verfügung stehen, desto besser lassen sich Maßnahmen entwickeln, um Armut zu reduzieren. Beispielsweise muss Armutsbekämpfung dort, wo der Zugang zu Bildung das größte Problem ist, anders aussehen als dort, wo den meisten Menschen kein angemessener Wohnraum zur Verfügung steht.

Immer mehr Regierungen und internationale Institutionen arbeiten mit multidimensionalen Armutskonzepten. 40 von ihnen haben das Multidimensional Poverty Peer Network (MPPN) gegründet, um den Austauschu und die Kooperation zwischen Ländern des Südens zu stärken.


Eine neue Kommission

Der Chefökonom der Weltbank, Kaushik Basu, hat eine Kommission aus 24 führenden Ökonomen eingesetzt, die bis April 2016 die folgenden Fragen beantworten soll:

  • Was bedeutet es, die Armutsgrenze konstant bei der Kaufkraft von 1,25 Dollar im Jahr 2005 zu halten, wie bei der aktuellen Anhebung auf 1,90 Dollar geschehen, auch wenn Preise und Wechselkurse sich ständig ändern?
  • Sollte die Weltbank auch Armutsgrenzen von vier Dollar pro Tag und 10 Dollar pro Tag in Erwägung ziehen?
  • Sollte sie die Tiefe der Armut unterhalb dieser Armutsgrenzen evaluieren?
  • Sollte sie Daten über nichtmonetäre Dimensionen von Armut sammeln und auswerten?

Insgesamt haben sich die Aussichten für eine ad­äquate Armutsmessung stark verbessert. Mit SDG 1 hat die Weltgemeinschaft endlich anerkannt, dass Armut multidimensional ist und auf verschiedene Arten gemessen werden muss. Bei der Definition und Messung von Armut in ihren verschiedenen Dimensionen wurden große Fortschritte erzielt. Allerdings bestehen in der Praxis immer noch große Hürden, was die Methoden und Verfügbarkeit der Daten betrifft.

Für die traditionellen Geberländer stellen die neuen Armutsmaße große Herausforderungen dar – aus zwei Gründen:

  • SDG 1 bezieht sich auf alle Länder, Armut muss also nicht nur in Entwicklungsländern, sondern überall gemessen werden, und
  • alle Politikbereiche sind aufgerufen, Armut in all ihren Dimensionen zu reduzieren.


Hildegard Lingnau hat diesen Beitrag in ihrer Rolle als Head of Division bei der OECD geschrieben. Sie ist jetzt Head of Cooperation an der deutschen Botschaft in Kenia. Im Beitrag äußert sie ihre persönliche Einschätzung.
hildegard.lingnau@web.de


Literatur:
Ferreira, F. H. G., et al, 2015: A global count of the extreme poor in 2012. World Bank 2015:
http://documents.worldbank.org/curated/en/2015/10/25114899/global-count-extreme-poor-2012-data-issues-methodology-initial-results
Klasen, S., 2015: SDG – Den Ärmsten der Welt einen Bärendienst erwiesen. KfW:
https://www.kfw-entwicklungsbank.de/PDF/Download-Center/PDF-Dokumente-Development-Research/2015-09-22_MF_Klasen_SDG_DE.pdf
Oxford Poverty and Human Development Initiative (OPHI):
http://www.ophi.org.uk/
Ravallion, M., 2015: The World Bank’s new global poverty line. CGD Blog 7.10.2015:
http://www.cgdev.org/blog/world-bank%E2%80%99s-new-global-poverty-line
Sandefur, J., 2015: Nobel prizes, poverty numbers and tales of mythical creatures. CGD Blog 15.10.2015:
Sumner, A., 2015: An End to Global Poverty: Philanthropy, Welfare Capitalism, or Radically Different Global Economic Model? CGD Blog 9.9.2015:
http://www.cgdev.org/blog/end-global-poverty-philanthropy-welfare-capitalism-or-radically-different-global-economic-model
Sumner, A., 2015: When Does One Dime = 100 Million People? CGD Blog 11.5.2015:
http://www.cgdev.org/blog/when-does-one-dime-100-million-people
World Bank Global Monitoring Report 2015/2016:
http://www.worldbank.org/en/publication/global-monitoring-report

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