Entwicklung und
Zusammenarbeit

Indigene Stimmen

„Wir wollen Teil des Fortschritts sein, ohne unsere Identität aufzugeben“

Was bedeutet es heute, Sámi zu sein? Im Interview hinterfragt der Sámi-Aktivist Jan Olli gängige Klischees und erklärt, weshalb die Indigene Identität nicht auf Rentierzucht und Traditionen reduziert werden darf, sondern in Sprache, Geschichte und Zugehörigkeit verwurzelt sein sollte. Er hat mit Leon Kirschgens gesprochen.
Jan Olli wuchs in einer Küstengemeinde in Norwegen auf. Jan Olli
Jan Olli wuchs in einer Küstengemeinde in Norwegen auf.

Dieser Artikel ist Teil einer Interviewreihe, in der Indigene Stimmen aus verschiedenen Teilen der Welt zu Wort kommen, darunter eine Turkana und ein Massai aus Kenia und eine Santal aus Indien.

Sie stammen aus einer Sámi-Familie in Nordnorwegen. Was bedeutet Ihnen Ihre Sámi-Identität?
Genau, ich bin in einer Küstengemeinde im hohen Norden aufgewachsen. Zu Hause haben wir Sámi gesprochen. Meine beiden Großmütter haben sogar überhaupt kein Norwegisch gesprochen – Sámi ist also immer unsere Muttersprache gewesen, die uns über Generationen hinweg verbunden hat. Mein Vater hat bis in die 1960er-Jahre hinein als Fischer gearbeitet, danach im Straßenbau. Auch wenn wir Sámi sind, hat sich unser Alltag also kaum von dem unserer norwegischen Nachbarn unterschieden.

Das anzuerkennen, finde ich sehr wichtig, weil unsere Sámi-Identität nicht so sehr davon abhängt, wie man lebt, sondern davon, wer man ist. Unsere Wurzeln liegen in unseren kulturellen Praktiken, unserer Abstammung und Sprache. Leider wird das oft übersehen. Viele Menschen, selbst hier in Norwegen, stellen sich unter „echten“ Sámi immer noch Menschen vor, die auf eine bestimmte Weise gekleidet sind oder leben. Das ist höchst problematisch.

Damit meinen Sie vermutlich, dass viele Menschen mit den Sámi vor allem die Rentierhaltung assoziieren?

Genau. Die Rentierhaltung ist zu einem Symbol unserer Kultur geworden; dabei betreiben sie nur noch rund zehn Prozent der Sámi tatsächlich. Dennoch hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung festgesetzt: Nur wer Rentiere hält, kann „echter“ Sámi sein. Selbst einige Sámi reproduzieren diese verzerrte Vorstellung – vor allem jene, die in Städte gezogen sind und samische Traditionen bewahren wollen. Es ist also paradox: Ausgerechnet jene, die sich am vehementesten für eine traditionelle Lebensweise starkmachen, sind oft am weitesten von ihr entfernt. Das soll keine Kritik sein; aber hier zeigt sich, wie groß der Druck ist, einem bestimmten Bild entsprechen zu müssen, selbst wenn die große Mehrheit von uns dies nicht tut.

Was muss sich ändern, um die Sámi-Gemeinschaft als Ganzes zu unterstützen?

Zunächst einmal müssen wir eine grundlegend andere Perspektive einnehmen. Indigene Identität darf nicht am Lebensstil gemessen werden. Nur weil jemand nicht „traditionell“ lebt, heißt das nicht, dass die Person weniger Sámi ist. Alle sollten dieselben Rechte haben, dieselbe Anerkennung erfahren und sich gleichermaßen kulturell zugehörig fühlen dürfen. In Politik und Gesellschaft wird leider implizit oft das Gegenteil vermittelt. 

Außerdem müssen wir uns von der Vorstellung lösen, dass sich moderne Entwicklung und Indigene Rechte grundsätzlich widersprechen. Wie alle anderen auch nutzen Sámi die Infrastruktur, brauchen Arbeitsplätze, gute Schulen und Gesundheitsversorgung. Wir sind nicht gegen Fortschritt – wir wollen Teil davon sein, ohne unsere Identität aufzugeben. Gleichzeitig müssen wir die Grundlagen unserer Identität als Sámi stärken. Dazu gehören Sprache, Historie und unser kollektives Gedächtnis. Hierbei kommt auch dem Staat eine gewisse Verantwortung zu; es darf nicht Einzelnen oder einer kleinen kulturellen Elite überlassen werden.

Wie könnte das in der Praxis aussehen, etwa im Bildungsbereich?

Als ich zur Schule gegangen bin, habe ich erst in der Sekundarstufe etwas über unsere Herkunft gelernt. Das führt zu Entfremdung. Wenn junge Menschen ihre Identität verstehen und wertschätzen sollen, müssen sie sie in ihrem Alltag wiederfinden, nicht nur auf Festen oder im Museum. Unsere Sprache sollte deshalb in den Kerngebieten der Sámi verpflichtend unterrichtet werden – sonst wird sie verschwinden. Es reicht nicht, sie nur als Wahlfach anzubieten. Wir brauchen außerdem eine umfassende Integration der samischen Geschichte, Literatur, Musik und Perspektiven in den Lehrplan, beginnend im Kindergarten. Nur so schaffen wir es, dass die Identität der Sámi nicht nur als Postkartenmotiv wahrgenommen wird, sondern als eine, die lebendig ist und sich entwickelt.

Jan Olli ist Sámi aus Nordnorwegen und hat sich als Direktor von Finnmarkseiendommen (FeFo) für Sámi-Gemeinschaften engagiert. Die Landverwaltungsbehörde ist zuständig für rund 95 % des Territoriums der Provinz Finnmark, der nördlichsten Region Norwegens. Mittlerweile ist er im Ruhestand und setzt sich weiterhin für ein breiteres Verständnis der samischen Identität ein.
euz.editor@dandc.eu 

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