Armut
Wachstum allein reicht nicht
[ Von Ursula Schäfer-Preuss ]
Welche Kriterien auch angelegt werden, der asiatisch-pazifische Raum hat in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte in der Armutsbekämpfung gemacht. Anfang der 70er Jahre verfügte über die Hälfte der Bevölkerung der Region nur über einen Dollar oder weniger pro Tag, sie lebte folglich in absoluter Armut. 1990 betrug dieser Anteil ein Drittel – es ging um rund 900 Millionen Menschen. Inzwischen werden die absolut Armen mit etwa 620 Millionen beziffert, bis 2015 wird ein Rückgang auf 350 Millionen angestrebt.
Aktuelle Prognosen stellen schnellen Wandel in Aussicht. Die Eminent Persons Group (2007), die der Präsident der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB), Haruhiko Kuroda, einberief, um die wichtigsten Zukunftsaufgaben zu analysieren, vertritt die Auffassung, dass der Kampf gegen die absolute Armut im Jahr 2015 nicht mehr prioritär sein wird.
Dennoch bleibt Armut ein wichtiges Thema. Heute leben noch zwei Drittel der absolut Armen weltweit in Asien. Außerdem werden 2015 konservativen Schätzungen zufolge noch 1,5 Milliarden Menschen dieser Region mit Pro-Kopf-Einkommen von weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen müssen. Das gilt vor allem für Südasien, aber auch andere Gebiete sind betroffen, auch China. Neueste Trends deuten an, dass Divergenzen nicht nur in der Region insgesamt, sondern auch innerhalb einzelner Länder zunehmen.
Weltweit ist Armut vor allem ein ländliches Phänomen. Das ist auch in Asien so. Dennoch sind urbane Slums eine wachsende Herausforderung. Zwar leben 70 Prozent der Armen nicht in Städten, doch Tag für Tag ziehen rund 120 000 Menschen in die Ballungsräume Asiens. Die Suche nach Arbeit und Einkommen wird bis 2015 weitere 1,5 Milliarden Menschen in die ökonomischen Wachstumszentren treiben.
Selbstverständlich kreist Armut nicht nur um Geld, sondern hat viele Facetten. Relevant sind Versorgungsmängel, ungesunde, unangemessene und sich weiter verschlechternde Lebensumstände, einhergehend mit steigender Chancenungleichheit. Armut muss deshalb ganzheitlich angegangen werden.
Die Realität ist vielfach trist. Weltweit entfallen auf Asien
– 71 Prozent der Menschen ohne akzeptable Sanitärversorgung,
– 58 Prozent der Menschen ohne sauberes Wasser,
– 56 Prozent der Unterernährten,
– 54 Prozent der Slumbewohner und
– 43 Prozent der Kindersterblichkeit.
Es überrascht daher kaum, dass kein einziges asiatisches Entwicklungsland alle UN-Millenniums-Entwicklungsziele (MDGs) erreichen dürfte. Was Wasser- und Sanitärversorgung angeht, sind die Defizite in absoluten Zahlen immer noch größer als südlich der Sahara. Auch werden wahrscheinlich im Jahr 2015 mehr Asiaten als Afrikaner mit HIV/Aids infiziert sein.
Allerdings ist im asiatisch-pazifischen Raum durchaus auch Fortschritt zu verzeichnen. Um nur zwei wichtige Indikatoren zu nennen: Von 1970 bis 2002 stiegen die Alphabetisierungsrate von 47 Prozent auf 77 Prozent und die durchschnittliche Lebenserwartung von 54,3 auf 66,6 Jahre.
Asiens Bevölkerung wächst immer langsamer, wird aber dennoch bis 2015 um 400 Millionen Menschen zunehmen. Soziale Grunddienste werden also stärker beansprucht werden, vor allem in den Ballungsräumen. Zudem altern manche asiatische Gesellschaften schnell, der Anteil der über 65-Jährigen steigt. Trotz des soliden Wirtschaftswachstums plagen also weiterhin ernste Probleme den Kontinent. Gebraucht werden mehr soziale Dienste, mehr Nahrung, mehr Arbeitsplätze und mehr Wohnraum.
Besonders beunruhigt, dass die Bevölkerung schneller wächst, als neue Jobs entstehen. In den 90er Jahren brachten zusätzliche Prozentpunkte beim Wirtschaftswachstum in vielen Ländern nicht mehr so viele neue Arbeitsplätze wie zuvor. Vorsichtigen Schätzungen zufolge (ADB, 2006) könnten derzeit insgesamt 1,7 Milliarden Menschen einer bezahlten Beschäftigung in Asien nachgehen, doch 500 Millionen sind unterbeschäftigt oder ganz arbeitslos.
Vielerorts werden formale Arbeitsplätze besonders gebraucht, die mit höheren Löhnen, mehr Sicherheit, gesetzlichem Schutz und Sozialleistungen einhergehen. Leider stagniert aber der Anteil der formal Beschäftigten in vielen Volkswirtschaften, oder er schrumpft sogar. Die Gefahr besteht, dass mit steigender Produktion Arbeits- und Sozialbedingungen schlechter werden. Wenn Wachstum nur ein Heer schlecht bezahlter Sweatshop-Arbeiter schafft, die unter schlimmen Bedingungen für Niedriglöhne rackern, sinkt Armut nicht. Es müssen reguläre Arbeitsplätze entstehen – vor allem für junge Menschen und Städter.
Zwar hat Wachstum geholfen, Not zu lindern, doch die Einkommensverteilung ist nicht überall gerechter geworden – mancherorts sogar ungerechter. In Ländern mit ausgeprägten sozialen Unterschieden lässt wirtschaftliche Expansion die Schere häufig weiter aufklaffen (Chatterjee, 2005).