Sozialforschung

In der Grauzone

Es ist ungemein spannend, aber auch schwer: Sozialwissenschaftliche Forschung bedeutet in Vietnam unter anderem, mit der Bürokratie zu verhandeln, sich über Vorurteile hinwegzusetzen, und sie erfordert einen extrem langen Atem.

Von Gabi Waibel und Judith Ehlert

Wer sich heute über Vietnam informieren möchte, wird in der Literatur immer wieder auf den Vietnamkrieg stoßen. Unverhältnismäßig viele Publikationen befassen sich nach wie vor mit diesem Thema. Unerforscht bleiben hingegen sozialwissenschaftliche Themen. Dabei wäre gerade das so spannend, denn Vietnam befindet sich im Wandel. Erst nach dem Ende des Krieges 1975 wurde das geteilte Land wiedervereinigt, und Mitte der 80er Jahre öffnete sich das sozialistische Land dem Weltmarkt. Für Forscher ist das eigentlich ein Paradies, denn mit den Umbrüchen verändert sich auch die Gesellschaft, und es ergeben sich immer neue Forschungsfragen.

Lange Jahre war Vietnam für Forscher komplett unzugänglich. Das ist wohl der Hauptgrund, weshalb die Literatur heute so einseitig ist. Die Dinge änderten sich mit der wirtschaftlichen Öffnung, und in den 90er Jahren konnten erstmals wieder Forschungs- und Entwicklungskooperationen aufgenommen werden. Seitdem nimmt auch die deutsch-vietnamesische Zusammenarbeit wieder zu (siehe Kasten).

Doch auch wenn die Zugangsbeschränkungen für ausländische Wissenschaftler immer weiter abnehmen, reguliert der Staat in Vietnam die Forschung weiterhin stark. Kritische Sozialforschung hat im sozialistisch-zentralistischen Vietnam einen schwierigen Stand. Es gibt daher auch nur wenige potentielle Kooperationspartner für Sozialwissenschaften und nahezu gar keine außerhalb der großen Zentren Hanoi und Ho Chi Minh City. Wir versuchten es trotzdem und begannen, im Rahmen einer interdisziplinären Wissenschaftskooperation zu Wasserressourcenmanagement, sozialwissenschaftliche Forschungsfragen zu bearbeiten.

Kritik unerwünscht

Vietnam folgt traditionell einem positivistischen Forschungsansatz und bleibt eher misstrauisch gegenüber kritischer Sozialforschung. Dies widerspricht dem Verständnis vieler europäischer Forscher. Unterschiedliche Konzepte von „guter“ sozialwissenschaftlicher Forschung prallen aufeinander, mit unterschiedlichen Zugängen zu Themen und zur methodischen Umsetzung.

So herrscht beispielsweise in Vietnam das so genannte Survey-Forschungsverständnis vor, das im Prinzip auf repräsentativen Stichproben beruht. Ethnographisches Arbeiten mit qualitativen Methoden wie teilnehmender Beobachtung oder ausführlichen Tiefeninterviews gelten als unwissenschaftlich oder zumindest unrelevant. Diese Art von Forschung ist zumindest für Ausländer auch praktisch unmöglich, da sie sich nur schwer frei bewegen können. Aus vermeintlichen „Sicherheitsgründen“ wurde es uns zumeist verwehrt, in Familien in dörflichen Gemeinden unterzukommen. Dies ist für teilnehmende Beobachtung aber nötig.

Ähnliches zeigte sich auch bei Interviews mit Experten. Da wir im Umweltbereich forschten und das Management natürlicher Ressourcen wie Wasser per Gesetz dem Staat obliegt, hatten wir es zum größten Teil mit Regierungsvertretern zu tun. Die Interviews verliefen äußerst formalisiert. Inhaltlich reduzierten sich die Beamten auf offizielle Angaben. Der Zugang zur lokalen Bevölkerung wiederum – beispielsweise zu Wassernutzergruppen – wurde stark reglementiert. Bei Haushaltsinterviews mussten wir immer von Beamten begleitet werden.

Vor den eigentlichen Interviews mussten wir zudem die Forschungserlaubnis beantragen – ein langer Prozess, bei dem das Interviewthema und die einzelnen Fragen vorgestellt und autorisiert werden. Dieser administrative Aufwand muss für jedes einzelne Gespräch betrieben werden, und von dem genehmigten Arbeitsplan darf dann nicht mehr abgewichen werden. Um das sicherzustellen, macht die Polizeibehörde gelegentlich unangekündigte Kontrollbesuche, und auch die Interviewpartner sichern sich auf allen Ebenen ab, dass die Formalien eingehalten werden. Diese Interviewsituation beeinflusst natürlich auch die Daten.

Allgemein werden in Vietnam viele Informationen und Daten als sensitiv betrachtet. Auch in informellen Gesprächen gaben uns die Interviewpartner Dokumente oft nur, wenn wir versprachen, sie keinem Dritten zugänglich zu machen. Das stellte uns als Forscher vor ein Dilemma: Einerseits müssen wir unsere Informanten respektieren und schützen, andererseits müssen wir unsere Aussagen wissenschaftlich absichern und die Quellen nennen.

Die Schwierigkeit, an Wissen zu gelangen, traf jedoch nicht nur uns, sondern scheint für ganz Vietnam symptomatisch zu sein. Unsere Forschungen ergaben, dass Wissen in Vietnam generell eher wie ein ökonomisches Gut gehandelt wird. In der Wissenschaft und in Behörden findet kaum institutionalisierter Wissensaustausch statt, sondern Wissen wird hauptsächlich über persönliche Beziehungen weitergegeben. Selbst Wissenschaftler veröffentlichen tendenziell wenig, da Lehre und Consultingaufträge ausländischer Geber einen großen Teil ihrer Zeit absorbieren. Wenn sie doch Fachpublikationen herausgeben, schreiben sie oft in vietnamesischer Sprache und veröffentlichen in institutseigenen Publikationen. Vietnamesische Wissenschaftler sind daher international auch kaum sichtbar.

Weitere Probleme für Ausländer in Vietnam sind die Sprache – sie müssen immer einen Übersetzer einsetzen – und die Tatsache, dass Forschung in Vietnam stark politisiert wird. Gemeinsame Publikationen kommen manchmal nicht zustande, da lokale Partner sehr gut einzuschätzen wissen, wo für sie die Grenzen kritischer Analysen liegen.

Jenseits formaler Strukturen

Trotz oder gerade wegen dieser Einschränkungen ist sozialwissenschaftliche Forschung in Vietnam ungemein spannend. Durch unsere mehrjährige Forschung und Arbeit im Land gewannen wir umfassende inhaltliche und neue methodologische Erkenntnisse.

Erst über unsere Partner vor Ort haben wir verstanden, was es bedeutet, in Vietnam Forschung zu betreiben. Nach langen Anläufen haben wir festgestellt, dass man Forschung auch außerhalb der formalen Strukturen betreiben kann. So haben wir Einblicke erhalten, die über die „offizielle Position“ hinausgingen. Dafür mussten wir allerdings eine enge und lange Beziehung zu unseren Partnern aufbauen. Beispielsweise haben wir ein lokales Büro eingerichtet und permanent einen Ansprechpartner vor Ort gehabt.

Erst durch solch vertrauensvolle persönliche Beziehungen konnten wir auch Praktika in Forschungseinrichtungen machen oder mit lokalen Familien leben, was uns wichtige, alltagspraktische Forschungseinblicke brachte.

Unseren vietnamesischen Partnern und Stakeholdern war es besonders wichtig zu wissen, was unsere Forschungen ergeben haben. Deshalb stellten wir die Ergebnisse zusammen, was teuer und viel Arbeit war, übersetzten sie ins Englische und Vietnamesische und gaben sie an lokale Partner, Institute, Behörden und Bibliotheken weiter.

Wichtig waren uns eine Beurteilung durch Gutachter – Peer Review – und Zweisprachigkeit. Wir publizierten die Analysen in Vietnam und bereiteten einige von ihnen für die dortige Lehre und Trainings auf. Speziell für das technische Personal in Planungsbehörden fassten wir die Ergebnisse in einer Broschüre zusammen.

An unsere Grenzen stießen wir allerdings, als wir aus unserer Institutionenanalyse konkrete Vorschläge an die Politik ableiten sollten (policy recommendations). Die Ergebnisse stellten sich teilweise als zu sensitiv heraus (siehe Kasten unten). Dies wiederum war den deutschen Partnern und Trägern schwer klarzumachen. Sie streben eine Wissenschafts- und Entwicklungskooperation an, die durch Wissenschaft Veränderungen im Land anstößt. Doch eine solche integrierte Kooperation ist bisher höchstens ein idealtypisches Fernziel, in der praktischen Umsetzung steht man erst am Anfang.

Wandel verstehen

Die Bedingungen für sozialwissenschaftliche Forschung in Vietnam sind schwierig – damit umzugehen müssen Forscher mühselig lernen, vor allem wie sie Fragen formulieren und wie sie Interviews durchführen können. Forscher müssen langfristig planen, denn die Bürokratie zu bewältigen ist extrem zeitaufwändig. Im Feld wiederum müssen sie besonders flexibel sein.

Gleichzeitig ist die Forschung hier besonders wichtig, denn noch wissen wir sehr wenig über den sozio­­-öko­nomischen und kulturellen Wandel im Land. Mit den ­Erfahrungen und Ergebnissen von Sozialforschern ­lernen wir lokale Arbeits-, Entscheidungs- und Machtstrukturen besser verstehen.

Seit Mitte der 90er Jahre nimmt die universitäre Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Vietnam wieder sukzessive zu, und im September 2008 wurde die Vietnamesisch-Deutsche Universität (VGU) in Ho Chi Minh City eröffnet. Vor allem das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammen­arbeit und Entwicklung (BMZ) und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzieren Projekte in den Bereichen Umweltforschung und -technologie. Die Projekte sind zumeist interdisziplinär ausgerichtet: Sie enthalten neben technologischen und naturwissenschaftlichen auch sozialwissenschaftliche Komponenten. Das Projektmanagement liegt jedoch in der Regel in Händen der Technologieexperten.

Doch gerade auch Sozialwissenschaften sind in einem Land wie Vietnam wichtig. Schließlich bringen technologische ­Erfindungen nur dann Fortschritt, wenn Politik und Gesellschaft auch von deren Nutzen überzeugt werden. Dafür ­müssen die Wissenschaftler die sozio-ökonomischen Entwicklungen verstehen lernen. Und sie müssen erkennen, wie in der Politik Entscheidungen getroffen werden. (gw/je)