Genozid
Ein deutscher Völkermord
Nach deutschem Selbstverständnis sind Anerkennung, Entschuldigung und Entschädigung Kernbegriffe der Erinnerungspolitik. Dieses Vorgehen hat sich in der Aussöhnung mit Nazi-Opfern bewährt. Allerdings hält die Kontroverse über den Umgang mit dem von deutschen Soldaten in Namibia verübten Genozid an. Verantwortungsvoller Umgang mit Geschichte muss offensichtlich immer wieder neu erstritten werden. Herero- und Nama-Verbände haben Deutschland vor einem New Yorker Gericht auf Anerkennung des Völkermordes verklagt.
Im Oktober 1904 teilte Lothar von Trotha, der Oberbefehlshaber der deutschen Schutztruppe im damaligen Deutsch-Südwestafrika, der Volksgruppe der Herero in einem Brief mit, sie seien nicht mehr deutsche Untertanen und müssten das Land verlassen: „Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen.“
Dieser Schießbefehl war eine Grundlage des ersten Genozids des 20. Jahrhunderts. Er dokumentiert die gegen alle Herero und später auch Nama gerichtete Vernichtungsabsicht.
Zugleich versuchte Trotha im Kontext kolonialen Massenmords den Anschein deutscher Ehrbarkeit zu wahren. In einem nur für die Soldaten bestimmten Tagesbefehl erläuterte der General, deutsche Soldaten sollten über die Köpfe von Frauen und Kindern hinwegschießen, um sie zu vertreiben und zugleich den „guten Ruf“ der Truppe zu wahren. Dieser Tagesbefehl war allerdings zynisch, wie der Historiker Professor Jürgen Zimmerer erläutert: „Das Zurückweichen bedeutete den Dursttod“, denn die Kolonialmacht betrieb planmäßige Vertreibung. Die Herero waren bereits in die Omaheke-Wüste zurückgedrängt worden; dort besetzten deutsche Truppen die Wasserstellen, denn die Flüchtenden sollten verdursten.
Die Doppelzüngigkeit Trothas war Ausdruck kolonialer Arroganz. Der geplante Massenmord selbst galt ihm nicht als problematisch, aber Massaker an Frauen und Kindern hätten das deutsche Ansehen in der Welt belastet.
Erst im Dezember 1904 kassierte die Reichsregierung den Schießbefehl. Zu diesem Zeitpunkt war ein Großteil der vertriebenen Herero bereits in der Wüste gestorben. Reichskanzler Bernhard von Bülow gab in einem Telegramm am 11. Dezember 1904 die Anweisung, „die Reste des Hererovolkes“ in „Konzentrationslagern“ unterzubringen – es war das erste Mal, dass eine deutsche Regierung diesen Begriff verwandte (siehe Kasten). In Südwest-Afrika überlebte nur die Hälfte der Internierten.
Die Folgen des Genozids
In den Kriegsjahren 1904 bis 1908 fielen schätzungsweise 65 000 bis 85 000 Menschen dem geplanten Massenmord zum Opfer. Die Folgen von Vertreibung und Völkermord sind bis heute in Namibia allgegenwärtig: Ein Großteil des urbaren Landes ist in der Hand weißer, größtenteils deutschstämmiger Namibier (siehe Henning Melber in E+Z/D+C e-Paper 2017/07, S. 29).
Die Bundesregierung hat den Kolonialkrieg lange nicht als Genozid anerkannt. 2004 sagte Heidemarie Wieczorek-Zeul, die damalige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: „Ich bitte im Sinne des gemeinsamen ,Vaterunser‘ um Vergebung für unsere Schuld.“ Die Bundesregierung erklärte diese indirekt formulierte Schuldanerkennung umgehend zur „Privatmeinung“. Zu groß war die Befürchtung, ein offizielles Eingeständnis werde Reparationsklagen nach sich ziehen. Deutsche Historiker und zivilgesellschaftliche Akteure sprachen dagegen schon lange von Völkermord und forderten, dieser müsse offiziell anerkannt werden.
Die Herero zählten vor dem Völkermord zu den größten Bevölkerungsgruppen in der deutschen Kolonie, sahen sich aber wie die Nama nach dem Genozid lange marginalisiert. Für die Nachfahren ist die Anerkennung der historischen Gräueltaten die Grundlage für die Auseinandersetzung mit den Folgen. Israel Kamatjike, Vertreter der Herero in Deutschland, sagt: „Wir wollen die Entschuldigung, auch damit dann Reparationen möglich werden.“ Das nach dem Völkermord enteignete Land müsse im Rahmen von Reparationen umverteilt werden.
Die offizielle Haltung der Bundesregierung änderte sich 2015 im Kontext von auch im Bundestag geführten Debatten über die Anerkennung des armenischen Genozids. Der senegalesischstämmige Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby sagte: „Wer A sagt, muss auch N sagen.“ Seine Botschaft war, dass für den Völkermord an den Herero und Nama der gleiche Maßstab gelten müsse wie für den an den Armeniern. Bald schloss sich Bundestagspräsident Norbert Lammert dieser Sicht an: „An den heutigen Maßstäben des Völkerrechts gemessen war die Niederschlagung des Herero-Aufstands ein Völkermord“, schrieb er in der Wochenzeitung „Die Zeit“.
Seither verhandeln deutsche und namibische Delegationen unter Ausschluss der Öffentlichkeit um eine formale Anerkennung. Verbände der Herero und Nama sind nicht beteiligt. Sie fürchten, dass Deutschland versucht, Entwicklungshilfe gegen Reparationen aufzurechnen. Tatsächlich verweist die Bundesregierung mit Blick auf die Mittel, die sie Namibia zur Verfügung stellt, auf ihr „besonderes Verhältnis“ zu Namibia.
Herero-Aktivist Kamatjike sagt, Deutschland wolle vorgeben, was mit Reparationsgeld geschehen solle. Das sei aber nicht akzeptabel, denn „Reparationen haben keine Konditionen“. Zudem hätten sie nichts mit Entwicklungspolitik zu tun.
Die Haltung der Bundesregierung, diese Fragen könnten nur mit der namibischen Regierung verhandelt werden, wirkt geschichtsvergessen. Die Grenzen Namibias und die aktuellen Mehrheitsverhältnisse im Land sind schließlich Folgen der deutschen Kolonialaggression, die zur Ausgrenzung der Herero und Nama führte.
Klage in New York
Vor diesem Hintergrund ist eine von Herero in New York eingereichte Klage brisant: Seit März 2017 läuft dort ein Verfahren, in dem der in den USA ansässige Herero-Vertreter Vekuii Rukoro mit Unterstützung von Herero-Chiefs aus Namibia Deutschland verklagt. Es geht dabei um die umfassende Anerkennung des Völkermordes, aber auch um eine Zulassung von Herero-Vertretern zu den Regierungsverhandlungen.
Die Bundesregierung hatte offenbar irrtümlich damit gerechnet, dass die Klage abgewiesen würde. Die erste Anhörung musste mehrfach verschoben werden und war für Mitte Oktober angesetzt.
Das Verfahren wird international aufmerksam beobachtet. Zunächst wurde Deutschlands Bereitschaft, mit Namibia über den Genozid zu verhandeln, international honoriert – besonders in Frankreich und Großbritannien, zwei Ländern mit eigener Kolonialvergangenheit. Mittlerweile leidet das deutsche Ansehen aber unter dem Eindruck, die Bundesregierung stelle sich immer noch nicht der vollen Verantwortung.
Unterdessen hat der tansanische Verteidigungsminister Hussein Mwinyi angekündigt, er lasse eine Klage wegen des kolonialen deutschen Vernichtungskrieges in Ostafrika prüfen: Im heutigen Tansania wurden während des Maji-Maji-Krieges von 1905 bis 1907 schätzungsweise 300 000 Menschen Opfer deutscher Kolonialaggression.
Die Bundesrepublik wird sich den Kernforderungen der Herero und Nama sowie der Nachfahren anderer Kolonisierter stellen müssen. Die Erfahrung lehrt, dass sich im angemessenen Umgang mit vergangenen Gräueltaten der Dreiklang aus Anerkennung, Entschuldigung und Entschädigung bewährt hat (siehe hierzu auch E+Z/D+C e-Paper 2017/10, S. 9).
Joshua Kwesi Aikins ist Politikwissenschaftler im Fachgebiet „Entwicklungspolitik und postkoloniale Studien“ der Universität Kassel und engagiert sich in den Organisationen „Berlin Postkolonial“ und „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“.
Er lebt in Berlin.
kwesiaikins@gmail.com
Links
Zivilgesellschaftliches Bündnis „Völkermord verjährt nicht/No Amnesty for Genocide“:
http://genocide-namibia.net/alliance/
Berlin-Postkolonial e.V.:
http://www.berlin-postkolonial.de/