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Kommentar

Der Maghreb ist gefährdet

Ohne nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ist die politische Stabilität im Maghreb gefährdet. Für die Sicherheit Europas hätte dies fatale Folgen.
Junge Tunesier protestierten im Februar 2016 vor dem Arbeitsministerium gegen Arbeitslosigkeit. picture-alliance/dpa Junge Tunesier protestierten im Februar 2016 vor dem Arbeitsministerium gegen Arbeitslosigkeit.

Vor mehr als sechs Jahren nahm die „Arabellion“ in einer tunesischen Provinzstadt ihren Anfang und verbreitete sich rasant in der gesamten arabischen Welt. Millionen Menschen gingen gegen soziale Ungerechtigkeit, Despotie und Korruption auf die Straße. Europa applaudierte und setzte große Hoffnungen in den demokratischen Wandel. Tunesien ist es als bisher einzigem arabischen Land gelungen, seinen Diktator nicht nur zu stürzen, sondern durch eine funktionierende Demokratie zu ersetzen.

In Marokko hielt sich der König an der Macht, weil er punktuelle Reformen durchführte. In Algerien war die Bevölkerung von dem fast zehnjährigen Bürgerkrieg während der 1990er-Jahre noch zu erschöpft, um vollends aufzubegehren. Libyen zerfiel als Staat und wurde zum Risiko für die gesamte Region. Durch die eskalierende Gewalt in Syrien und Irak gerieten die Maghrebstaaten allerdings bald wieder aus dem Blickfeld der Weltöffentlichkeit. Erst als sich in Europa Anschläge häuften, an denen Attentäter aus dem Maghreb maßgeblich beteiligt waren, wurde deutlich, dass sich in Nordafrika etwas zusammenbraut, was Europa unmittelbar bedroht.

An den sozialen Verhältnissen, die 2011 zu Massenprotesten geführt hatten, hat sich indessen nichts verändert. Tunesien steht heute wirtschaftlich noch schlechter da als 2011. Die verschärfte Sicherheitslage hat zu einem Rückgang des Tourismus, der Haupteinnahmequelle des Landes, geführt. In allen drei Ländern herrscht durch eine extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit und die Gängelung durch korrupte staatliche Behörden eine Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit. Zwar leiteten die Regierungen Reformen ein, die aber aus Furcht vor erneuten sozialen Erhebungen halbherzig blieben. So scheut sich etwa Algerien, eine notwendige Steuerreform durchzuführen und die kaum noch finanzierbaren Subventionen für Nahrungsmittel und Treibstoff abzubauen. In Tunesien scheitert eine Reform der öffentlichen Verwaltung daran, dass die Regierung davor zurückschreckt, die extrem hohe Zahl der Staatsangestellten zu reduzieren.

Derweil türmen sich die sozialen Probleme der Menschen weiter auf und entladen sich erneut in Massendemonstrationen. In Tunesien brachen im Januar 2016 die heftigsten sozialen Unruhen seit 2011 aus. Auch in Marokko und Algerien kam es wegen Schikanen der Behörden und Kürzung von Subventionen für Güter des täglichen Bedarfs zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Proteste eskalieren. Heute ist das politische Gemisch in der Großregion mit ISIS, den Bürgerkriegen im Nahen Osten sowie dem Chaos in Libyen sogar noch explosiver als vor der Arabellion.

Die Politik der EU und ihrer Mitgliedsländer gegenüber dem Maghreb indessen ist stark von innenpolitischen Zielen geprägt. Sie konzentriert sich darauf, abgelehnte Asylbewerber und Straftäter aus der Region in ihre Heimatländer zurückzuführen, bilaterale Rücknahmeabkommen zu schließen und Auffangzentren für Flüchtlinge in Nordafrika zu installieren. Nebenbei erwähnt die EU, dass die Länder mehr Entwicklungshilfe erhalten sollen. Sie droht aber auch immer, diese den betreffenden Ländern zu streichen, wenn sie nicht kooperieren.

So berechtigt die derzeitige Debatte innenpolitisch ist, so kurzsichtig wäre die Ausblendung der Risken eines wirtschaftlich geschwächten und politisch gefährdeten Maghreb für Europa. Um diesen Gefahren zu begegnen, ist eine konzertierte Aktion von EU und Mitgliedsländern, allen voran Deutschland und Frankreich, notwendig, um dazu beizutragen, den sozialen Sprengstoff zu entschärfen. Hierzu bedarf es zur Unterstützung einer nachhaltigen und inklusiven wirtschaftlichen Entwicklung eines Instrumentenmixes, der über die Entwicklungszusammenarbeit hinausgeht. Denn die EU ist mit Abstand der wichtigste Handelspartner der drei nordafrikanischen Länder.

Eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit, insbesondere der Abbau von Handelshemmnissen, kann dem Privatsektor neue Spielräume eröffnen und dazu beitragen, Arbeitsplätze zu schaffen und damit der enttäuschten Jugend Perspektiven im eigenen Land zu bieten. Dabei sollte die Politik mehr auf Dialog als auf Konditionalitäten oder gar Drohungen setzen. Denn Europa ist mehr denn je auf Frieden und Stabilität in Nordafrika angewiesen.


Nassir Djafari ist Ökonom und freier Autor.
nassir.djafari@gmx.de