Gesundheitspolitik

Zuckerkrise in Mexiko

Schlechte Ernährung, Fettleibigkeit und Diabetes haben in Mexiko eine regelrechte Gesundheitskrise ausgelöst. Alejandro Calvillo, Gründer einer Verbraucherschutzorganisation, kämpft gegen die Lebens­­mittel-Lobby und für eine bessere Gesundheitspolitik – wie die Softdrink-Steuer.
Mexiko wird aufgrund der Beliebtheit und großen Durchdringung der Marke als  „Coca-Cola-Nation“ bezeichnet. picture-alliance/dpa Mexiko wird aufgrund der Beliebtheit und großen Durchdringung der Marke als „Coca-Cola-Nation“ bezeichnet.

Welche Dimension hat die Diabetes-Krise in Mexiko?
Heute spricht man in Mexiko von einer Epidemie von Übergewicht und Adipositas, von der 72 Prozent der erwachsenen Bevölkerung und ein Drittel der Kinder und Jugendlichen betroffen sind. Im Jahr 2016 war Diabetes mellitus für mehr als 100 000 vorzeitige Todesfälle im Land verantwortlich, damals rief das Gesundheitsministerium auch einen epidemiologischen Notstand aus.

Wie konnte die Krise solche Ausmaße annehmen?
Das Problem der Fettleibigkeit wurde vor einigen Jahrzehnten entdeckt, aber Forscher, die darauf hingewiesen haben, wurden ignoriert. Statt präventive Maßnahmen einzuführen, die das Problem verlangsamt hätten, wurden die Türen für die großen multinationalen Konzerne der Getränke- und Lebensmittelindustrie geöffnet und gleichzeitig die mexikanische Landwirtschaft vernachlässigt. Das Ergebnis war eine hohe Verbreitung von ultraverarbeiteten Produkten, auch Junk Food genannt, die Bestandteile von Monokulturen wie Weizen, Mais oder Sojabohnen und künstliche Substanzen enthalten. Traditionelle Getränke und Lebensmittel wurden verdrängt und neue Ernährungsgewohnheiten entstanden. Mangels Regulierung wurde Junk Food in Mexiko immer zugänglicher und erschwinglicher (siehe hierzu auch Beitrag in E+Z/D+C e-Paper 2018/02, S. 6).

Welche Rolle spielen Softdrinks wie Cola oder Limo?
Der Konsum zuckerhaltiger Getränke ist ein riesiges Problem. Vor wenigen Jahren stieg Mexiko zu einem der höchsten Pro-Kopf-Verbraucher der Welt auf. Der hohe Zuckergehalt und die Verwendung von Maissirup mit hohem Fruktosegehalt als Süßstoff in diesen Getränken fördert nicht nur Übergewicht und Fettleibigkeit durch die Ansammlung von Fettgewebe im Körper, sondern führt auch zu Stoffwechselschäden, die die Entstehung von Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigen, die heute in Mexiko die Haupttodesursache sind.

Mexiko wird sogar als „Coca-Cola-Nation“ bezeichnet …
Coca-Cola-Produkte werden nicht nur in den 21 000 großen Oxxo-Märkten des Landes verkauft, sondern auch in kleinen Läden. Coca-Cola bemalt deren Wände und verschenkt auch Tischdecken und Küchenutensilien an kleine Restaurants. In ländlichen Gemeinden begrüßt Besucher manchmal das Coca-Cola-Logo. Obwohl das Unternehmen erklärt hat, dass es nicht um Kinder unter zwölf Jahren wirbt, ist das Marketing sogar in Vergnügungsparks präsent.

Sind bestimmte Gruppen, wie Kinder oder die Landbevölkerung, besonders betroffen?
Die Armen haben weniger Zugang zu gesunder Ernährung, haben weniger Informationen über die Schädigung durch Junk Food und zuckerhaltige Getränke. Weder Menschen mit einem niedrigeren Bildungsniveau noch Kinder verfügen über ausreichende Informationen, um der millionenschweren Werbung und der hohen Präsenz von ungesunden Lebensmitteln im Alltag zu widerstehen. Leider tritt dieses Phänomen auch in indigenen Gemeinden auf. In der Region Altos de Chiapas liegt der Pro-Kopf-Verbrauch von Coca-Cola beispielsweise bei 2,25 Litern pro Tag. Eine aktuelle Studie zeigt, dass Übergewicht und Adipositas in ländlichen Gebieten signifikant zugenommen, während sie sich in städtischen Gebieten stabilisiert haben.

Wie verändert die Krankheit den Alltag der Betroffenen?
Viele ärmere Menschen finden erst heraus, dass sie Diabetes haben, wenn sie eine Wunde am Fuß haben, die nicht heilt, oder sie anfangen, blind zu werden, und der Arzt feststellt, dass sie eine Netzhautschädigung haben. Es ist üblich, dass Menschen mit Diabetes Komplikationen entwickeln, wobei die häufigsten Sehstörungen und Verlust des Sehvermögens, aber auch Amputationen und Nierenversagen sind. Obwohl viele Diabetes-Betroffene Medikamente einnehmen, erhalten die meisten keine angemessene Kontrolle über die Krankheit. Es geht viel Lebensqualität verloren. Diabetes muss möglichst früh erkannt werden, dann sind Komplikationen und Folgeschäden weitgehend vermeidbar.

Inwieweit erhalten Kranke eine angemessene medizinische Versorgung vom Staat?
Übergewicht und Diabetes verursachen erhebliche Kosten für die Familien und den Staat, was zu horrenden Haushaltsausgaben führt. Um ein Beispiel zu nennen: Die Hämodialyse, die von Menschen mit Nierenversagen aufgrund von Diabetes-Komplikationen benötigt wird, ist sehr teuer. Wenn der Staat sie in die „Seguro Popular“, die Versicherung mit der größten Abdeckung in Mexiko, aufnehmen wollte, müsste er 80 Prozent seines Gesamthaushalts zur Verfügung stellen – was unmöglich ist. Viele Krankenhäuser sind dafür bekannt, Ulkus-Komplikationen, die zu Wundbrand führen, durch Amputation von Gliedmaßen zu lösen, statt weniger invasive, aber teurere Behandlungen anzuwenden.

Mexiko hat 2014 im Kampf gegen die Diabetes-Krise eine Steuer auf Softdrinks eingeführt, die „Soda-Steuer“ – zeigt sie Wirkung?
Studien zufolge hat die Steuer im ersten Jahr den Kauf von zuckerhaltigen Getränken um 6,3 Prozent reduziert, was sich noch stärker auf Haushalte mit Kindern (11 Prozent) und ärmere Haushalte (10,3 Prozent) auswirkte. Darüber hinaus stieg der Kauf von abgefülltem Wasser um 16,2 Prozent. Es ist aber notwendig, dass die Soda-Steuer oder zumindest ein erheblicher Teil davon für Maßnahmen zur Verhinderung von Übergewicht und Fettleibigkeit verwendet wird. Zusammen mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen haben wir vorgeschlagen, einen Fonds zur Verhinderung von Übergewicht und Adipositas zu schaffen, aber es gibt Widerstand in der Regierung.

Sehen Sie bisher ein Umdenken in der mexikanischen Bevölkerung?
In der Bevölkerung herrscht mittlerweile ein Bewusstsein für die Schädlichkeit einiger Produkte wie gezuckerte Getränke, aber eine große Unkenntnis über andere ungesunde Lebensmittel, wie verarbeitetes Getreide, Joghurt und andere Produkte, die als gesund vermarktet werden, aber einen hohen Gehalt an zugesetztem Zucker aufweisen.

Regierung und Konzerne blockieren Reformen. Sie und andere Gesundheitsexperten waren sogar Ziel von Spionage-Attacken (siehe dazu auch E+Z/D+C e-Paper 2017/06, S. 14). Was ist passiert?
Es gab Versuche, unsere Computer und Telefone abzuhören. Ich habe einen infizierten Link mit einer Spionage-Malware namens Pegasus von der israelischen Firma NSO Group erhalten. Das Unternehmen verkauft diese Systeme nur an Regierungen – zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Terrorismus. Zwei Tage nachdem ich den Link erhalten hatte, bekam ihn auch ein anderer Kollege, der sich im Kongress für die Soda-Steuererhöhung einsetzte. Zur gleichen Zeit wurde auch der Computer eines prominenten Forschers des Nationalen Gesundheitsinstitutes mit Pegasus infiziert. Eine Untersuchung hat gezeigt, dass ein Dutzend Journalisten und Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen, die sich für die Verteidigung der Menschenrechte und gegen Korruption einsetzen, ausspioniert wurden. Auf Basis der vorhandenen Informationen ist die einzige Hypothese, dass starke Verbindungen zwischen Konzernen und Regierungsmitgliedern dazu geführt haben, dass die Regierung für diese Unternehmen Spionagedienste geleistet hat.

Wie weit reicht die Macht der Konzerne über die Politik?
Lobbying, Wissenschaftler zu kaufen und Zweifel zu säen, sind nur einige der Strategien, die von Getränke- und Lebensmittelindustrie verwendet werden, um die Politik zu schwächen. Die Nationale Strategie zur Prävention und Kontrolle von Übergewicht, Adipositas und Diabetes, die von der derzeitigen Regierung umgesetzt wird, ist ein Beispiel dafür, wie die Getränke- und Lebensmittelindustrie in Mexiko in die öffentliche Politik eingreift. Die Maßnahmen entsprechen nicht allen Empfehlungen und Richtlinien internationaler Organisationen. Einige Aspekte nutzen eher der Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie. So gibt es zwar jetzt eine obligatorische Nährwertkennzeichnung auf der Vorderseite von Verpackungen, aber das verwendete Format ist schwer verständlich. Die Umsetzung ist also sehr schlecht konzipiert.

Was wären jetzt notwendige Schritte, um die Krise in den Griff zu bekommen?
Diese Gesundheitskrise erfordert einen Menschenrechtsansatz und muss durch eine Politik zur Verhinderung von Übergewicht, Adipositas und chronischen Krankheiten unterstützt werden. Experten empfehlen, das Problem von der Nahrungsmittelerzeugung bis hin zur Umsetzung politischer Maßnahmen anzugehen. Der Verzehr ungesunder Lebensmittel muss erschwert und der Verzehr gesunder Lebensmittel und Getränke erleichtert und gefördert werden. Dazu gehört die Regulierung der Werbung für Kinder, die Einführung einer nachvollziehbaren Kennzeichnung sowie die Regulierung der Essensversorgung in den Schulen, so dass Kinder Zugang zu gesunder Nahrung und kostenlosem Trinkwasser haben. Sinnvoll wären auch weitere Steuern auf ungesunde Lebensmittel und Subventionen für gesunde Lebensmittel.


Alejandro Calvillo ist Gründer der mexikanischen Verbraucher­schutz­organisation „El Poder del Consumidor“ (Die Macht des Verbrauchers).
comunicacion@elpoderdelconsumidor.org
http://elpoderdelconsumidor.org/