Libanon
Angst vor dem sozialen Abstieg
Es hat mir keinen Spaß gemacht, diesen Film zu sehen, trotzdem empfehle ich ihn –„Capharnaüm“ von der libanesischen Regisseurin Nadine Labaki. Der Film, der dieses Jahr den Preis der Jury der Filmfestspiele von Cannes gewonnen hat, läuft seit Ende September in den libanesischen Kinos. Er erzählt die Geschichte des 12-jährigen Jungen Zain, der in einem Beiruter Slum aufwächst. Mit seinen überforderten, apathischen Eltern und zahlreichen Geschwistern lebt er in einer heruntergekommenen, kleinen Wohnung. Jeder Tag ist ein Überlebenskampf. An Schule ist nicht zu denken. Zain arbeitet bei einem Lebensmittelhändler, der ihn in Naturalien bezahlt.
Als seine Schwester mit diesem Händler zwangsverheiratet wird, haut Zain von zu Hause ab und beginnt ein eigenes Leben. Der Junge freundet sich mit einer Arbeitsmigrantin aus Äthiopien an, die ihn in ihrer armseligen Behausung aufnimmt. Labaki hält der libanesischen Gesellschaft einen Spiegel vor. Es ist ein hässliches, grausames, hoffnungsloses Bild, das wir zu sehen bekommen. Solidarität ist selten. Der Staat tritt nur dann in Erscheinung, wenn es darum geht, Menschen abzuschieben, vor Gericht zu stellen oder ins Gefängnis zu werfen. Dieser Film war für mich schwer zu ertragen, weil mir viele Szenen aus dem wirklichen Leben allzu vertraut sind.
Slums, bettelnde Kinder, Frauen mit Babys und alte Menschen zu allen Tageszeiten an Straßenkreuzungen gehören zum normalen Straßenbild in Beirut und anderen Städten. Sie verkaufen Blumen, Papiertaschentücher, Kaugummis oder sitzen apathisch herum. „Capharnaüm“ fordert uns, die Zuschauer, auf, über unsere Haltung gegenüber armen Menschen um uns herum nachzudenken. Ich komme nicht umhin, mich im Alltag außerhalb des Kinos zu fragen: Soll ich einem bettelnden Kind Geld geben? Wenn ich gebe, dann unterstütze ich doch das Vorgehen der verantwortungslosen Eltern oder der „Kindermafia“, die dahintersteckt! Vielleicht doch lieber Essen verteilen? Bananen und Wasser? Was kann ich tun?
Einige Filmszenen und die Situationen auf den Straßen sind nur die besonders sichtbare Seite der Armut in Beirut, vor der niemand die Augen verschließen kann. Aber es gibt noch viel mehr Facetten. In dem sozial gemischten Stadtteil in Westbeirut, in dem ich lebe, bin ich von Menschen umgeben, die um das tägliche Überleben kämpfen, ohne zu betteln oder darüber zu sprechen. Da ist etwa Um Bashir. Jeden Tag sitzt die 40-jährige Witwe mit ihrem arbeitslosen Sohn in einem Hauseingang und verkauft Zeitungen. Sie ist auf die paar Groschen angewiesen, die sie täglich verdient. Da ist auch Hammudi, der 13-jährige Junge, der, anstatt zur Schule zu gehen, jeden Tag von früh morgens bis spät in die Nacht beim Kfz-Mechaniker arbeitet. Seine Eltern bekommen 20.000 libanesische Pfund (LBP), ungefähr zwölf Euro, in der Woche für die Arbeit ihres Sohnes.
Es sind die jungen Männer, die mir alle paar Tage Wasserkisten liefern oder an der Supermarktkasse meine Einkäufe einpacken. Sie sind auf mein Trinkgeld angewiesen. Eigentlich muss ich nichts geben. Niemand würde mich deswegen zur Rechenschaft ziehen oder empört anschauen. Aber es ist sozusagen ein ungeschriebenes Gesetz hier, das auch mich verpflichtet, etwas zu geben. Leute, die haben, geben anderen, die nichts oder nur sehr wenig haben. Immer sollte man einige von diesen dunkelgrünen 1000-Pfund-Scheinen parat haben. 1000 LBP sind 0,57 Euro.
Die UNDP schätzt, dass ungefähr ein Drittel der Libanesen arm sind und von weniger als vier US-Dollar pro Tag leben müssen. Etwa 200 000 Libanesen müssen mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen und gelten damit nach Weltbank-Definition als extrem arm. Es gibt starke sozio-ökonomische Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen. Im Norden und Osten des Landes ist die Lage besonders schwierig.
Besonders von Armut betroffen sind Libanesen, die die Schule abgebrochen und keine Ausbildung abgeschlossen haben, ungeachtet der religiösen Zugehörigkeit. Aber auch Gruppen, die durch libanesische Gesetze benachteiligt werden, sind besonders stark betroffen. Das sind Palästinenser, die seit Jahrzehnten im Libanon leben. Sie haben nicht den gleichen Zugang zum staatlichen Bildungssystem, dürfen nicht alle Berufe ausüben und Grundbesitz haben. Außerdem wird ihnen nur ein beschränkter Zugang zum Sozialsystem gewährt. In eine palästinensische Familie im Libanon hineingeboren zu werden ist ein schwieriger Start ins Leben. Syrische Flüchtlinge, die in diesem Land gestrandet sind, keine gültige Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis haben, leben auch von der Hand in den Mund. Darüber hinaus werden sie von vielen Libanesen angefeindet, weil sie als billige Arbeitskräfte mit den Einheimischen auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren.
Arbeit, ein regelmäßiges Einkommen zu haben, das die Kosten des täglichen Lebens und die Schulgebühren der Kinder deckt, ist noch kein Garant gegen den sozialen Abstieg. Wegen des schwach ausgebildeten Sozialsystems kann schon die schwere Krankheit eines Familienangehörigen schnell den finanziellen Ruin bedeuten. In den Genuss einer guten Gesundheitsversorgung zu kommen ist keine Selbstverständlichkeit im Libanon, auch nicht für die Angehörigen der Mittelschicht. Erschreckend sind Zeitungsberichte, die immer wieder von abgewiesenen Notfällen in Krankenhäusern berichten, weil die Angehörigen nicht in Vorleistung treten konnten. Der Aufschrei ist jedes Mal groß, aber dann verfliegt die Aufregung schnell wieder.
Armut im Libanon ist sichtbarer, allgegenwärtiger als in Deutschland oder anderswo in Westeuropa; sie ist bedrohlicher, auswegloser, gnadenloser. Sie kann einen unvermutet treffen. Sie wird hingenommen, als eines der vielen seit Jahrzehnten unlösbaren Probleme des Landes. Der schwache libanesische Staat wird nicht zur Verantwortung gezogen. „Ma fi Dawleh“, „es gibt keinen Staat“, heißt ein weitverbreiteter Satz im Libanon. Ebenso wie der Staat unfähig ist, die Müllkrise zu lösen, der Elektrizitäts- und Wasserknappheit Herr zu werden, wird gar nicht erst erwartet, dass er zugunsten der sozial Benachteiligten handelt. Im Gegenteil. Er gilt als Fürsprecher der Reichen. Die Politiker sind oftmals auch vermögende Geschäftsleute. Das Problem wird ausgelagert. Zuständig für soziale Probleme sind karitative und religiöse Organisationen. Oder auch Privatpersonen, die sich engagieren und helfen. Jede Konfession soll für ihre Angehörigen aufkommen.
Ich frage mich, ob die Tatsache, dass Armut im Libanon so allgegenwärtig ist, viele Menschen dazu bringt, sich stärker voneinander abgrenzen zu wollen und zu zeigen, dass sie eben nicht arm sind. Ist deswegen Prestige so wichtig? Einen übertriebenen Wert auf teure Kleidung und Autos zu legen? Damit anzugeben, dass die Kinder auf eine angesehene Privatschule gehen oder gar im Ausland studieren?
Bildung ist der sicherste Weg für den sozialen Aufstieg. Eltern strampeln sich ab, üben mehrere Jobs aus, um ihren Kindern eine gute Ausbildung zu finanzieren. Der nächste Schritt für junge Libanesen ist oft, den Sprung ins Ausland zu schaffen. Nur dort, sind viele überzeugt, lasse sich eine sichere Zukunft aufbauen.
Mona Naggar ist Journalistin und Trainerin. Sie lebt in Beirut, Libanon.
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