Armutsbekämpfung
Neue Armutsdefinition
Während in punkto Nachhaltigkeit noch viele grundlegende Fragen offen sind, scheint bei der Armutsbekämpfung weitgehend Einigkeit zu herrschen: Bis 2030 soll die extreme Armut weltweit „beendet“ werden. Dieses politisch griffige Thema täuscht allerdings darüber hinweg, dass noch große Unklarheit darüber besteht, wie Armut im Rahmen der neuen Agenda definiert und gemessen werden soll. Mit der UN-Generalversammlung (UNGA) im September dieses Jahres werden die offiziellen Verhandlungen beginnen. Die UNGA 2015 soll dann die neuen Ziele definieren. Deshalb sind jetzt Vorschläge für die Definition von Armut nötig.
Der neue Zielkanon sollte sich an den Erfolgen und Misserfolgen des Vorgängermodells, den MDGs, orientieren. Der wohl wichtigste Erfolg der MDGs ist ihr positiver Impuls: Die Statistiken der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigen, dass die Mitgliedsstaaten kurze Zeit nach der Einführung der MDGs ihren Anteil der öffentlichen Entwicklungshilfe am Bruttonationaleinkommen (die sogenannte ODA-Quote) deutlich erhöhten.
Zudem konnten nach Einführung der MDGs rapide Fortschritte bei mehreren Entwicklungsindikatoren beobachtet werden, nicht zuletzt dank nationaler Armutsbekämpfungsstrategien.
Neuer Zielkatalog
Bei der Formulierung der neuen Ziele müssen Lehren aus den Stärken und Schwächen der MDGs gezogen werden. Ein zentrales Problem der MDGs ist, dass sie in einem zunehmend anachronistischen Nord-Süd-Denken verhaftet sind: Sieben Ziele richten sich ausschließlich an Entwicklungsländer, ein Ziel ausschließlich an die reichen Länder. So wird die entwicklungspolitische Bringschuld weitgehend den armen Ländern zugewiesen.
Ziele und Indikatoren wurden hauptsächlich aus Gründen ihrer internationalen Vergleichbarkeit ausgewählt. Ein Beispiel ist die Armutsdefinition, die von der Weltbank übernommen wurde: Demnach ist „extrem arm“, wer von weniger als der Kaufkraft von 1,25 Dollar pro Tag leben muss. Mit dieser Kennzahl lassen sich verschiedene Länder leicht vergleichen. Der Haken an der Sache ist aber, dass für unterschiedlich weit entwickelte Länder unterschiedliche Schwellen relevant sind.
Die Verwendung der 1,25-Dollar-Definition bedeutet, dass der Fortschritt in Ländern mit höherem Entwicklungsstand tendenziell überschätzt wird, weil es dort leichter ist, Menschen über diese Marke zu heben. Dagegen wird der Fortschritt in ärmeren Ländern unterbewertet, in denen noch große Teile der Bevölkerung in extremer Armut leben und die 1,25 Dollar-Schwelle für große Teile der Bevölkerung nicht so schnell wie in China zu erreichen ist. Nach 2015 sollte daher darauf geachtet werden, den Fortschritt innerhalb von Ländern zu messen und nicht allein das Erreichen des 1,25 Dollar-Ziels.
Ein zusätzliches Problem ist, dass die MDGs keinen sogenannten Headline-Indikator haben, der als Überblickskennzahl hätte dienen können. Deshalb ist es schwierig, den Fortschritt eines Landes hinsichtlich der Gesamtheit der Entwicklungsziele zu erfassen. Folglich rückte MDG 1a – die Halbierung der Zahl der Menschen, die von weniger als 1,25 Dollar pro Tag leben müssen – alle anderen Indikatoren in den Hintergrund.
Außerdem ist der Schwellenwert von 1,25 Dollar nicht mehr aktuell, weil die Kaufkraft gesunken ist, seit er festgelegt wurde. Aktuellen Schätzungen zufolge wäre heute eine Armutsgrenze zwischen 1,55 Dollar und 1,75 Dollar angemessen.
Beachtet werden muss zudem, dass Politiker sich weiterhin vielfach an nationalen Armutsgrenzen orientieren. Der Ökonom Stephan Klasen schlägt deshalb eine international abgestimmte Methode zur Ermittlung der nationalen Armutsgrenzen vor. Schwellenwerte wären dann sowohl für die jeweiligen Länder relevant, würden aber zugleich internationale Vergleiche ermöglichen.
Trotz ihrer Schwächen ist es um der internationalen Vergleichbarkeit willen sinnvoll, internationale Armutsgrenzen beizubehalten. Allerdings genügt es nicht, eine einzige Armutsgrenze zu definieren, weil sie Armut in höher entwickelten Ländern gar nicht mehr erfasst. Für asiatische Schwellenländer ist beispielsweise eine Zwei-Dollar-Grenze sinnvoll. Etwa 1,7 Milliarden Menschen in Asien leben unter dieser Schwelle. Für reiche Länder sind dagegen hohe Armutsgrenzen von zehn Dollar und mehr relevant.
Zudem ist absolute Armut, die sich dadurch auszeichnet, dass Menschen nicht das haben, was sie zur Existenzsicherung brauchen, nicht die einzige Form von Armut. Relative Armut, die Menschen in verschiedenster Weise vom sozialen Leben ausgrenzt, ist ebenfalls ein großes Problem.
Probleme der Ungleichheit
Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass Armut zunehmend als Problem innerstaatlicher Einkommensverteilung verstanden werden muss. Laut UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) leben mehr als drei Viertel aller Menschen in Ländern, in denen die wirtschaftliche Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat. Außerdem leben 70 Prozent aller extrem Armen heute in Ländern mittleren Einkommens (MICs). Obwohl das Durchschnittseinkommen hier weit über der internationalen Armutsgrenze liegt, lassen diese Länder häufig nicht die gesamte Bevölkerung an wirtschaftlicher Entwicklung teilhaben.
Aus diesem Grund ist es problematisch, dass die MDGs und vor allem MDG 1 Ungleichheit nicht erfassen. Die Post-2015-Agenda sollte die Reduzierung von Ungleichheiten daher sowohl als ein eigenständiges Ziel vorsehen als auch als Unterziel und Indikator bei anderen Zielen. Für die Messung von Ungleichheit bieten sich Kennzahlen wie der Gini-Koeffizient oder die Palma-Ratio.
Relative Armutsgrenzen sind ihrerseits wichtig. Die reichen Mitgliedsländer der OECD und der EU messen relative Armut anhand von Grenzen, die einen bestimmten Prozentsatz (meist 40 %, 50 %, 60 %, oder 70 %) des Medianeinkommens fixieren. Diese Methode wäre auch in Entwicklungs- und Schwellenländern sinnvoll, weil sie die Inklusivität von Wachstum registriert. Ein eigenständiges Ziel zur Reduzierung von Ungleichheit könnte den globalen Impuls, der von jüngsten UNDP- und OECD-Berichten sowie von Thomas Pikettys international viel beachtetem Buch „Capital in the 21st Century“ ausgeht, aufgreifen.
Multidimensionalität von Armut
Der gewohnte Fokus auf die 1,25 Dollar-Armutsgrenze hat zudem dazu geführt, dass die Multidimensionalität von Armut häufig außer Acht gelassen wurde. Forschungsergebnisse zeigen, dass arme Menschen nichtmonetäre Güter wie Bildung, Gesundheit, soziale Inklusion und Sicherheit mindestens genauso benötigen und wertschätzen wie Einkommen. Interessanterweise führt ein höheres Einkommen aber nicht unbedingt zu besserer Bildung, Gesundheit, sozialer Inklusion und Sicherheit. Das „Ende“ der Einkommensarmut wird deshalb nicht das Ende der Armut in anderen Armutsdimensionen bedeuten.
Neben der Frage, welche Dimensionen von Armut berücksichtigt werden sollen, ist ebenso entscheidend, wie diese gemessen werden. Bislang wurden oft nur makroökonomische Größen wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und Kaufkraft (PPP – purchasing power parities) verwendet, um entwicklungspolitischen Fortschritt zu messen. Diese Messgrößen können aber menschliches Wohlbefinden nicht messen und sagen auch nichts über die Verteilung von Wohlstand aus (siehe Kasten).
Die Weltgemeinschaft sollte die Verhandlung eines neuen Zielkanons deshalb nutzen, um zu Indikatoren überzugehen, die die positiven, nicht aber die negativen Aspekte markroökonomischer Messgrößen übernehmen. Mit Hilfe von klaren, numerischen und universell vergleichbaren Indikatoren sollte menschliche Entwicklung multidimensional gemessen werden. Dies ist am besten mit aus mehreren Indikatoren zusammengesetzten Indizes zu erreichen. Seit das UN Entwicklungsprogramm (UNDP) im Jahr 1990 den Human Development Index (HDI) vorstellte, haben sich Wissenschaft, internationale Organisationen, Regierungen und die Zivilgesellschaft dieser Aufgabe verstärkt gewidmet und eine Reihe von hilfreichen Indizes erstellt.
Der HDI bot erstmals ein mehrdimensionales Konstrukt, das aus Lebenserwartung, Bildungsniveau und Einkommen besteht. Seit 2010 wird der HDI auch als „inequality-adjusted HDI“ erstellt, um die Ungleichheit in Bezug auf diese Dinge zu reflektieren.
Die derzeit interessantesten umfassenden Indizes jenseits des HDI sind der Better Life Index (BLI) und der Multidimensional Poverty Index (MPI) (siehe Kasten).
Auch Genderungleichheit wird inzwischen mit Hilfe von Indizes gemessen. Im Human Development Report des UNDP wird hierfür der Gender Inequality Index genutzt, der die Dimensionen Reproduktionsgesundheit, Empowerment und Arbeitsmarkt betrachtet. Die OECD hat den Social Institutions and Gender Index (SIGI) entwickelt, der soziale Institutionen und Praktiken im Hinblick auf Genderdiskriminierung erfasst.
Abschließend lässt sich festhalten, dass Armut mit Hilfe von internationalen, nationalen, relativen sowie multidimensionalen Armutsgrenzen gemessen werden muss. Zudem sollte Ungleichheit mit Armut in Verbindung gebracht werden und ebenfalls mit mehreren Indikatoren gemessen werden. Darüber hinaus scheint es neben der Aufnahme mehrerer Armuts- und Ungleichheitsindikatoren sinnvoll, einen Post-2015-Headline-Index zu entwickeln, der auf den genannten multidimensionalen Indizes aufbauen und für alle Länder die erforderlichen Daten erfassen sollte.
Hildegard Lingnau ist Senior Counsellor im Development Cooperation Directorate (DCD) der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). hildegard.lingnau@oecd.org
Valentin Lang ist Junior Policy Analyst im OECD /DCD. Einausführlicherer Artikel dieses Autorenpaares zum Thema erscheint Ende 2014 im Journal of International Development. valentin.lang@oecd.org
Literatur:
Chandy, L., und Kharas, H., 2014: What Do New Price Data Mean for the Goal of Ending Extreme Poverty? Brookings Institution.
Cobham, A., und Sumner, A., 2013: Putting the Gini Back in the Bottle? ‘The Palma’ as a Policy-Relevant measure of Inequality. King’s International Development Institute. King’s College London.
Klasen, S., 2013: Is it time for a new international poverty measure? Development Cooperation Report 2013, OECD Publishing, Paris.
OECD, 2011: Divided We Stand: Why Inequality Keeps Rising. Paris.
OECD, 2013: Development Cooperation Report 2013: Ending poverty. Paris.