Ungesunde Kirchenmacht

In Lateinamerika hat die katholische Kirche traditionell großen Einfluss, spürt aber die wachsende Konkurrenz evangelikaler Gemeinschaften. In Nikaragua führte eine Kampagne konservativer Geistlicher zu einem radikalen Abtreibungsverbot, das selbst Eingriffe zum Schutz des Lebens der Schwangeren verbietet.

[ Von Nico Sebastian Schützhofer ]

Seit dem 17. November 2006 gilt in Nikaragua ein neues Abtreibungsgesetz. Es stellt Schwangerschaftsunterbrechungen in jedem Fall unter Strafe. Seither sind sechs Frauen in direkter Folge unbehandelter Komplikationen ums Leben gekommen. Ratlose Ärzte hatten diese Patientinnen auf immer andere Kliniken verwiesen, wie Lindabeth Fariñas Corea vom Frauenhaus Sonia Bello in Rivas berichtet.

Die indirekten Opferzahlen sind vermutlich weitaus höher: „Schwangere Frauen finden in den öffentlichen Krankenhäusern keine Ansprechpartner mehr“, erklärt die Rechtsberaterin. „Die Ärzte sind so verunsichert, dass sie schwangere Patientinnen generell meiden und Vorsorgeuntersuchungen unterlassen.“

Bereits vor der Gesetzesänderung wies Nikaragua laut Unicef mit über 200 Todesfällen je 100 000 Geburten eine der höchsten Müttersterblichkeitsraten Lateinamerikas auf. Das unabhängige Zentrum für Sozialstudien CEPS geht davon aus, dass die Quote nun dauerhaft rund ein Drittel höher ausfallen könnte.

Soziale Auswirkungen

Die Neuregelung trifft in erster Linie die benachteiligte Bevölkerung in den städtischen Armutsvierteln und auf dem Land. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten treiben weiterhin in modernen US-Kliniken oder auf Kuba ab. Aber drei Viertel der Nikaraguaner leben laut offizieller Statistik von weniger als zwei Dollar pro Kopf und Tag. Diese Menschen können sich Auslandsreisen nur in den seltensten Fällen leisten.

Der Bildungsstand ist niedrig, die Analphabetenrate lag 2005 bei 18,4 Prozent. In der armen Bevölkerung dominieren kurzfristige Überlebensstrategien. Die Geburtenraten sind hoch und Risikoschwangerschaften beson­ders häufig. Fachleuten zufolge kommt es in Nikaragua täglich zu rund 80 Fällen, in denen der Organismus den Embryo oder Fetus spontan abstößt. Aus medizinischer Sicht kann ein rascher Eingriff dann unerlässlich sein.

Das neue Gesetz berücksichtigt solche Notlagen nicht. Es geht auch nicht auf die Behandlung von Eileiterschwangerschaften ein, die ohne adäquaten Eingriff tödlich enden können. Dabei stellt sich die Frage nach dem Schutz des ungeborenen Lebens in den genannten Fällen meist gar nicht, weil der Fetus noch nicht überlebensfähig ist. Hinzu kommt, dass viele nikaraguanische Mütter ihre Kinder ohne Unterstützung der Väter großziehen. Der Staat garantiert keinerlei Grundsicherung. Deshalb ist das neue Gesetz zutiefst unsozial: Wenn die Haupternährerin infolge einer Fehlbehandlung ausfällt, kollabiert die Versorgung ganzer Familien.

Wie aber kam es dazu, dass in Nikaragua ein über 100 Jahre altes Abtreibungsgesetz so radikal verschärft wurde? Zunächst einmal ist Amerika im Gegensatz zu Europa ein religiöser Kontinent. Für viele Nikaraguaner bildet die Religion einen zentralen Lebensinhalt, der sie nicht nur in soziale Netzwerke integriert, sondern auch an spirituelle Meinungsführer bindet.

Gleichwohl lässt sich die dramatische Rückwärtsbewegung nicht allein auf einen religiös geprägten Wertewandel zurückführen. Es wäre verfehlt anzunehmen, eine Mehrheit der nikaraguanischen Abgeordneten – geschweige denn der Bevölkerung – vertrete die Auffassung, der Schutz des Fetus sei im Zweifel wichtiger als das Leben der Schwangeren. Das Beispiel Nikaragua zeigt vielmehr, dass es religiösen Dogmatikern möglich ist, mit Hilfe professionell geführter Kampagnen inhaltliche Diskussionen zu unterdrücken und Hunderttausende zu mobilisieren.

Emotionalisierte Kampagne

Mitten im Wahlkampf starteten die Kirchenvertreter ihre Massenkundgebungen: „Ja zum Leben – nein zur Abtreibung!“ Mit Unterstützung der konservativen Medien gelang es den Kommunikationsstrategen, das ethisch komplexe Thema auf eine Ja-oder-nein-Entscheidung zu reduzieren. Sie präsentierten es geschickt im Kontext von Kinderrechten und familiärer Verantwortung. „Mama, ich will dich kennen lernen“, stand auf den nackten Bäuchen schwangerer Demonstrantinnen.
Die Parteien gerieten derart unter Druck, dass die geforderte Gesetzesänderung innerhalb kürzester Zeit verabschiedet wurde. Eine zur Beratung des sensiblen Themas einberufene Parlamentskommission tagte nicht ein einziges Mal: Die Bereitschaft der Abgeordneten, sich am Ende der Legislaturperiode mit einem solch brisanten Thema zu befassen, war zu gering.

Bis heute ist nur einer kleinen Minderheit der Bevölkerung klar, dass ihr Land mit dem totalen Abtreibungsverbot eine Extremposition bezogen hat, die weltweit allein von Chile, El Salvador, Malta und dem Vatikan geteilt wird. International sind Sonderregelungen üblich, wenn
– Leben oder Gesundheit der Schwangeren bedroht sind,
– die Schwangerschaft aus einer Vergewaltigung resultiert oder
– der Fetus schwere Fehlbildungen aufweist.

In der öffentlichen Diskussion Nikaraguas kam das alles nicht vor. Die Strategie der Schwarz-Weiß-Pauschalisierung war nicht zuletzt deshalb erfolgreich, weil die alte Regelung zum „aborto terapéutico“ in den Augen vieler Menschen missbraucht worden war. Offiziell erlaubte das Gesetz Schwangerschaftsabbrüche zwar nur zur Rettung des Lebens der betroffenen Frauen, und drei Mediziner mussten dafür in ihrer Diagnose übereinstimmen. In der Praxis handelte es sich jedoch vielfach um eingespielte Ärzteteams, die ihre Arbeit nicht an der Rechtslage, sondern an der Nachfrage ausrichteten.

Dass die perzipierte Entscheidungsfreiheit schwangerer Frauen nicht den Moralvorstellungen der Wählerschaft entsprach, spielte den Befürwortern eines generellen Abtreibungsverbots in die Hände. Das gilt auch für diverse Protestaktionen aufgebrachter, teilweise ausländisch wirkender Frauenrechtsaktivistinnen, die mit Slogans wie „Yo decido!“ (Ich entscheide!) nicht für die Erhaltung der therapeutischen Abtreibungsoption, sondern für eine Pro-Choice-Regelung eintraten.

Weltweit dürfen nur rund 40 Prozent der Frauen legal und ohne die Angabe von Gründen abtreiben. In Lateinamerika sind es laut denselben UN-Statistiken aber nur fünf Prozent. Jeder zweiten Bewohnerin des lateinamerikanischen Kulturraumes bleibt das Recht auf eine Abtreibung selbst dann verwehrt, wenn infolge von Komplikationen eine Gesundheitsschädigung zu befürchten ist.

Angesichts der besonders restriktiven Ausrichtung lateinamerikanischer Abtreibungsgesetze suchen jähr­lich rund vier Millionen Lateinamerikanerinnen illegale Abtreibungskliniken auf, die keine adäquaten medizinischen Standards bieten können. Die Kirchen wehren sich mit aller Kraft gegen Bestrebungen progressiver Politiker, die relevanten Paragraphen zu lockern. Ein „Massaker an Unschuldigen“ dürfe man nicht zulassen, wetterte der Erzbischof von Rio de Janeiro, nachdem der brasilianische Gesundheitsminister angeregt hatte, das Abtreibungsgesetz unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Gesundheit neu zu diskutieren. Als Reaktion auf die Einführung eines Pro-­Choice-Gesetzes in der mexikanischen Hauptstadt betonte Papst Benedikt XVI, das Leben sei in jedem Fall „von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod“ zu respektieren und die Unterstützer der Neuregelung exkommunizierten sich selbst.

Politikerinteressen und Glaubensfragen

Seit dem Regierungswechsel im Jahr 1990 gelang es der katholischen Kirche in Nikaragua stets, sich auf der Seite des späteren Wahlsiegers zu positionieren und so ihren gesellschaftspolitischen Einfluss abzusichern. Lange Zeit hatte Kardinal Obando y Bravo das liberal-konservative Lager unterstützt, doch vor den Wahlen 2006 zeigte er sich demonstrativ an der Seite des Sandinistenführers Daniel Ortega, der nach drei Wahlniederlagen prompt ins höchste Staatsamt gewählt wurde. In der Hoffnung auf zusätzliche Wählerstimmen hatte sich der ehemalige Revolutionskommandant als gottesfürchtiger Katholik präsentiert, seine langjährige Lebensgefährtin geheiratet, der Kirche zahlreiche Vergünstigungen in Aussicht gestellt – und dafür gesorgt, dass sich eine ausreichende Anzahl seiner Parlamentsabgeordneten der fraktionsübergreifenden Mehrheit für die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes anschloss.

Der kirchliche Beistand konnte den anhaltenden Popularitätsverlust des FSLN-Dauerkandidaten dabei zwar nicht umkehren, trug aber dazu bei, dass die gegen Ortega geführte Angstkampagne ihre Wirkung verfehlte. Nach einer Änderung des Wahlgesetzes und der Spaltung der antisandinistischen Wählerschaft reichten Ortega 38 Prozent, um sich bereits im ersten Wahlgang gegen seine Mitbewerber durchzusetzen.

Die katholische Kirche genießt in der lateinamerikanischen Bevölkerung laut Meinungsumfragen mit über 70 Prozent Zustimmung großes Vertrauen – deutlich mehr als Regierungen, Parlamente und Parteien. Deshalb wagen nur wenige Spitzenpolitiker die offene Auseinandersetzung mit dem Klerus. Stattdessen erweitern sie ihre politische Agenda bereitwillig um religiös motivierte Zielsetzungen.
Für rechtsgerichtete Kandidaten bietet sich dabei insbesondere die Betonung konservativer Werte an. Dagegen findet die heterogene Linke Lateinamerikas angesichts horrender Ungleichheit und verbreiteter Armut Anknüpfungspunkte in der christlichen Soziallehre. Ihre Führungspersönlichkeiten haben den religionskritischen Ballast historischer Vorbilder abgeworfen und zitieren nun mit Vorliebe die Kritik von Johannes Paul II. am „Raubtierkapitalismus“.

Bei den Sandinisten haben religiöse Bezüge eine lange Tradition. Bereits in den 80er Jahren bezeichnete sich Parteigründer Tomás Borge als „Jünger Christi“ und forderte eine stärkere gegenseitige Durchdringung von Christen und Sandinisten. Statt den religiösen Einfluss als solchen zurückzudrängen unterstützten die Revolutionäre die Befreiungstheologie. Als diese Strömung ihre gesellschaftspolitische Bedeutung mehr und mehr verlor, forcierte Parteichef Ortega die Annäherung an die Amtskirche.

Heute beruft sich sich selbst Venezuelas umstrittener Präsident Hugo Chávez auf Jesus als den „ersten Sozialisten“ der Menschheitsgeschichte. George W. Bush bezeichnet er dagegen als Personifizierung des Teufels. Das zeigt exemplarisch, wie Politiker in religiösen Argumentationsmustern bleiben, statt auf der Trennung von Staat und Religion zu beharren.

Inzwischen geht die Zahl der praktizierenden Katholiken in Lateinamerika zurück, evangelikale Gemeinschaften verzeichnen dagegen teilweise kräftige Zuwächse. Bekannten sich 1995 noch 80 Prozent der Lateinamerikaner zum Katholizismus, rutschte dieser Anteil laut Latinobarómetro bis 2004 um neun Prozentpunkte ab. Mit ihrem dezentralen „Geschäftsmodell“, charismatischen Führungspersonen und gut gefüllten Missionskassen vervierfachten die Freikirchen ihre Anhängerschaft im gleichen Zeitraum. Heute bekennen sich 13 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung zu ihnen.

Im armutsgeplagten Nikaragua trafen die evangelikalen Prediger auf einen besonders fruchtbaren Nährboden. Das Institut für Entwicklung und Demokratie IPADE schätzt ihre Anhängerschaft heute auf rund 27 Prozent der Bevölkerung.

Obgleich sich die Policy-Forderungen der evangelikalen Gemeinschaften in weiten Teilen mit denen der katholischen Kirche decken, gestaltet sich die Bildung politisch-religiöser Allianzen angesichts der steigenden Akteursdichte zunehmend komplex. Denn politische Bündnisse beschränken sich in Lateinamerika typischerweise nicht auf inhaltliche Zielsetzungen. Meist geht es auch um den Zugriff auf die knappen Staatsressourcen, so dass bei einer Ausweitung der einbezogenen Akteure auch die interne Rivalität zunimmt.

Die katholische Kirche kann dabei weiterhin beanspruchen, die breite Mehrheit der gläubigen Lateinamerikaner zu vertreten. Sie greift auf gewachsene Strukturen zurück und ihre Verlautbarungen haben gesellschaftliches Gewicht. Die evangelikalen Gemeinschaften bieten dagegen aus politstrategischer Perspektive den Vorteil deutlich höherer Kohäsion. Sie verfügen über disziplinierte und vergleichsweise homogene Wählerblöcke, was sie in den Augen strategisch denkender Spitzenpolitiker attraktiv macht.

Perspektiven in Nikaragua

Das verschärfte nikaraguanische Abtreibungsgesetz wurde noch von Präsident Enrique Bolaños unterzeichnet. Der Zeremonie wohnten seinerzeit sowohl katholische als auch evangelikale Glaubensvertreter bei. Heute spricht Präsident Daniel Ortega bewusst im Plural von „den Kirchen, welche dem Land die so dringend benötigte Hoffnung schenken“.

Trotz des Drängens europäischer Geber hat die Forderung nach einer raschen Wiedereinführung der therapeutischen Abtreibungsoption vor diesem Hintergrund nur geringe Erfolgsaussichten. Solange es nicht gelingt, die nikaraguanische Wählerschaft für die Komplexität des Themas zu sensibilisieren und in großem Maßstab gegen das Totalverbot zu mobilisieren, wird sich Ortega davor hüten, die kirchlichen Hierarchien gegen sich aufzubringen.

Prinzipiell könnte das Abtreibungsgesetz auch ohne parlamentarische Mitwirkung durch den obersten nikaraguanischen Gerichtshof gelockert werden. In Kolumbien, wo früher eines der restriktivsten Gesetze galt, führte das Verfassungsgericht 2006 eine Reihe von Ausnahmebestimmungen ein. Unter Berufung auf ratifizierte Menschenrechtsabkommen und andere internationale Verpflichtungen erlaubte das Gericht Abtreibungen im Falle physischer oder psychischer Gesundheitsgefährdungen, fetaler Missbildungen sowie für Schwangerschaften, die aus einer Vergewaltigung resultieren. Die kolumbianische Abtreibungsregelung ist seither eine der liberalsten in der Region.

In Nikaragua ist ein entsprechendes Urteil allerdings eher unwahrscheinlich, da Ortegas FSLN den Justizsektor beherrscht. Eine Lockerung des neuen Gesetzes würde ihm zugeschrieben und könnte ihn politisch schwächen. Wahrscheinlicher ist daher, dass der verschärfte Gesetzestext in der richterlichen Praxis durch die Einbeziehung anderer Rechtsquellen relativiert wird. Führende nikaraguanische Parlamentarier und Juristen vertreten bereits die Auffassung, im Falle einer Lebensgefährdung der Schwangeren greife eine Sonderregelung zum „Handeln in Notlagen“.

Im Rahmen einer anstehenden Strafrechtsreform könnten darüber hinaus auch noch weitere juristische Hilfskonstruktionen etabliert werden, um medizinisch notwendige Schwangerschaftsunterbrechungen zu erleichtern. Die gebotene Rechtssicherheit wird Frauen und Medizinern jedoch auf absehbare Zeit verwehrt bleiben.