Sozialisierung
Gewalt entgegenwirken
Gewalt entsteht nicht aus dem Nichts, sondern das Individuum erlernt sie – wie vieles andere auch – im Sozialisierungsprozess. Der Psychologe Philip G. Zimbardo definiert „Sozialisierung als lebenslanges Erlernen und individuelles Reproduzieren von gesellschaftlich akzeptierten Verhaltensmustern, Werten und Normen“. Aus diesem Grund muss Gewaltprävention schon beim Sozialisierungsprozess ansetzen.
Bei jeglichem Sozialisierungsprozess, der gewalttätige Individuen oder Gemeinschaften hervorbringt, spielt der Genderaspekt eine bedeutsame Rolle. In der Frauen- und Geschlechterforschung gilt es als Konsens, dass Geschlecht eine soziale Konstruktion ist. Laut der Genderforscherin Judith Lorber ist die Genderkonstruktion eine „soziale Institution“, die auf drei strukturellen Prinzipien beruht:
- Menschen werden in zwei soziale Gruppen unterteilt: Männer und Frauen.
- Es werden wahrnehmbare Unterschiede zwischen ihnen konstruiert und
- die Geschlechter werden unterschiedlich behandelt, was durch sozial erzeugte Unterschiede legitimiert wird.
Sozialisierung findet in der Familie statt sowie in gesellschaftlichen Institutionen wie Schule, Staat, Medien und Kirche. In den meisten Gesellschaften ist dieser Prozess durch das Patriarchat beeinflusst, eine Gesellschaftsordnung, in der der Mann eine bevorzugte Stellung innehat. Das System beruht also auf einer ungleichen Machtbeziehung zwischen Mann und Frau.
Hierbei werden der weiblichen Rolle Merkmale wie Empathiefähigkeit, Gefühl, Hingabe und Selbstlosigkeit zugewiesen, der männlichen Rolle hingegen Merkmale wie Überlegenheitsgefühle, Dominanz und Abwertung der Frau. Die Verinnerlichung dieser Rollen beeinflusst das Selbstbewusstsein der Frauen negativ und führt zu einer Unterschätzung der eigenen Fähigkeiten. Dadurch, dass diese klischeehaften Geschlechterrollen reproduziert werden, können Männer eigene und Bedürfnisse und Gefühle anderer, wie Trauer, Angst oder Scham, nur erschwert wahrnehmen und konstruktiv kommunizieren.
Laut soziologischer Forschung ist es Teil der hegemonialen, männlichen Rolle, strukturelle und individuelle Gewalt zu nutzen – auch wenn die Nutzung in der Wechselwirkung mit anderen „Identitäten“ wie Klasse, Ethnie, Religion, Region und im historischen Kontext variiert.
Männlichkeit und Gewalt
Studien des UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime – Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung) zeigen, dass Männer „sehr viel häufiger als Frauen sowohl Täter als auch Opfer verschiedener Formen zwischenmenschlicher Gewalt“ sind: Zu 95 Prozent sind Männer die Täter bei gewalttätigen Morden und sind 81 Prozent der Opfer bei gewaltsamem Tod.
Auch wenn Frauen und Mädchen eine weitaus kleinere Zahl an Mordopfern darstellen, sind Frauen und Mädchen weltweit überproportional Opfer von geschlechtsspezifischen Formen von Gewalt, angefangen von häuslicher Gewalt bis hin zu Femiziden: 2017 starben laut UNODC jeden Tag 137 Frauen und Mädchen aufgrund von Gewalt durch Familienangehörige oder dem Partner.
Abhängig von der Weltregion werden zwischen ein und zwei Drittel der Frauen (im Falle Boliviens: 75 Prozent) zu einem Zeitpunkt ihres Lebens „Opfer physischer und/oder sexualisierter Gewalt“, erklärt die Weltgesundheitsorganisation WHO.
Wie die Geschlechterrollen definiert und erlernt werden, ist ein zentraler Aspekt der Entstehung von Gewalt. Gewaltprävention, ohne die Genderkonstruktion kritisch zu analysieren, kann daher nur eine begrenzte Wirkung haben.
Stärkung von Frauen und Jugendlichen
Die Nichtregierungsorganisation „Centro Juana Azurduy“ (CJA) in Sucre, Bolivien, widmet sich schon seit fast 30 Jahren der Stärkung von Frauenrechten sowie der Prävention und Strafverfolgung genderbasierter Gewalt. „In Bolivien gibt es eine stark polarisierte Geschlechterrollenzuschreibung, die im Alltag deutlich wird“, erklärt Martha Noya, Direktorin des Zentrums Juana Azurduy. Männer hätten strukturelle Privilegien und Gewalt werde idealisiert. Sie nutzten häufig Gewalt als erstes Mittel in Konfliktsituationen – im häuslichen Umfeld oder auch in anderen Situationen. CJA-Mitarbeiterin Lila Carrasco erklärt, dass Gewalt in familiären Beziehungen und in der bolivianischen Gesellschaft generell selbstverständlich sei.
Martha Noya hebt hervor, dass es essenziell sei, bei der Analyse von Gewalt und Konflikt unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen. In den sozialen Bewegungen des Landes fehlte das Bewusstsein für eine Genderperspektive. Konflikte würden fast ausschließlich aus Sicht von Klasse und Ethnie betrachtet. Dennoch haben Frauenrechtlerinnen schon etwas bewirkt.
Das CJA bemüht sich, angesichts der patriarchalen Struktur des bolivianischen Staates die gleichberechtigte Teilhabe der Frauen in gesellschaftspolitischen Prozessen zu stärken. Dass mittlerweile 51 Prozent aller gewählten politischen Ämter von Frauen besetzt werden, sieht Gretel Lambertin, Leiterin der Lobby- und Advocacyarbeit des CJA, als „Ergebnis eines langen und harten Kampfes der Frauenbewegung“, das „einen überaus wichtigen Fortschritt“ zeige.
Gleichberechtigte Strukturen sind auch innerhalb politischer Organisationen und Parteien notwendig, um politische Maßnahmen umsetzen zu können, die Gewalt vorbeugen und bestrafen. Eine Strategie ist, das Wissen und die Fähigkeiten von Frauen zu stärken, damit sie in politischen Ämtern eine feministische Perspektive einnehmen können. Das CJA führt dazu Kurse in einer Schule für Führungsbildung durch, die im Departement Chuquisaca einmalig sind. Die Ausbildung beinhaltet, Genderrollen der patriarchalen bolivianischen Gesellschaft zu de- und rekonstruieren, das Selbstbewusstsein und die Kommunikationsfähigkeiten der Teilnehmerinnen zu stärken, Wissen über gesellschaftspolitische Prozesse und die bolivianische Geschichte zu vermitteln und Einstellungen und Kapazitäten zu fördern, mit Konflikten konstruktiv und gewaltfrei umzugehen.
Das CJA verfügt ebenfalls über langjährige Erfahrung in der Gewaltvorbeugung bei Kindern. Das Projekt „Super-VerteidigerInnen“ („Super Defensores“) basiert auf einem Bildungskonzept, bei dem Kinder sich gegenseitig über ihre Rechte und körperliche Selbstbestimmung aufklären. So lernen sie, Genderklischees zu verstehen und Gewalt in der Schule vorzubeugen. Das Projekt bildete über einen Zeitraum von 14 Jahren mehr als 50 000 Kinder fort.
Negativer Einfluss sozialer Medien
Wie überall übernehmen auch in Bolivien soziale Medien eine immer größere Rolle im Prozess der Gendersozialisierung. Ana Lilian Ortega vom CJA ist Journalistin und Leiterin des Radiosenders des CJA „Radio Encuentro“. Sie ist der Ansicht, dass die meisten bolivianischen Medien „gewalttätige, rassistische und frauenfeindliche Botschaften“ vermitteln und dass die „Berichterstattung über Femizide und andere Gendergewalt de facto zu mehr Gewalt“ führt. Deswegen sei es notwendig, nicht nur eine „bewusste und kritische Nutzung der Medien unter den Jugendlichen zu stärken“, meint Ortega, sondern auch dieser Art von Berichterstattung nichtgewalttätige Alternativen entgegenzusetzen.
Um dies zu erreichen, wandelt das CJA jetzt sein Radio in einem strategischen Prozess zu einem Multimedia-Format um: Es nutzt nun auch soziale Medien wie Facebook, Twitter oder Instagram, um Inhalte zu vermitteln. Des Weiteren fördert es die Teilhabe der Jugendlichen als Protagonisten im Programm und in der Interaktion mit den verschiedenen Plattformen. Die Jugendlichen sind an der Entwicklung des Programms über Themen wie Partnerschaften, sexuelle Beziehungen und rassistische oder sexistische Diskriminierung beteiligt, mit dem Ziel, „Reflexionsprozesse beim Publikum auszulösen“, erzählt Ortega.
Aus den konzeptuellen Debatten und Forschungen sowie der 30-jährigen Erfahrung des Zentrums können folgende Schlüsse gezogen werden:
- Jegliche Maßnahme zur Gewaltvorbeugung muss den jeweils spezifischen Bedürfnissen der Kinder, Männer und Frauen entsprechen.
- Um mit Frauen und Mädchen zu arbeiten, muss der Schwerpunkt darauf liegen, Diskriminierung zu überwinden. Sie müssen über ihre Rechte informiert werden, um so ihr Selbstbewusstsein zu stärken – und somit die Fähigkeit erhalten, ungerechte Machtstrukturen in Frage zu stellen und zu verändern.
- Die Arbeit mit Jungen und Männern sollte darauf zielen, ihre nicht verdienten Privilegien und ihre Macht zu erkennen und sie darin zu unterstützen, Formen von Männlichkeit zu leben, die auf Gleichberechtigung, Wertschätzung und Gewaltfreiheit basieren.
Britta Wiemers ist Friedens- und Konfliktwissenschaftlerin und arbeitet als Fachkraft des Weltfriedensdienst e.V. beim Centro Juana Azurduy im Projekt „Frauen setzen auf eine Kultur des Friedens“ im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes.
wiemers@wfd.de
Weltfriedensdienst e.V.:
https://wfd.de/
Henry Cervantes ist klinischer Psychologe und arbeitet im Centro Juana Azurduy in einem Interventionsprojekt mit männlichen Tätern, um den Kreislauf häuslicher Gewalt zu durchbrechen.
hcervantes@centrojuanaazurduy.org
Links
„Centro Juana Azurduy“ (CJA):
http://centrojuanaazurduy.org/
https://www.facebook.com/Centro-Juana-Azurduy-Bolivia-269393446440891/