Urbanisierung

Urbanes Wachstum schafft Versorgungsprobleme

Istanbul ist die Stadt mit den meisten Einwohnern und der größten wirtschaftlichen Bedeutung in der Türkei. Das Wirtschaftswachstum und die damit einhergehenden Arbeitsmöglichkeiten führen zu einem steigenden Bedarf an Wohn- und Büroraum sowie städtischer Infrastruktur. Auch für die öffentliche Versorgung, zum Beispiel mit Trinkwasser, ergeben sich neue Herausforderungen.
Trinkwasserlieferant in Istanbul. Sarah C. Schreiner Trinkwasserlieferant in Istanbul.

Nach dem Militärputsch von 1980 baute die neue türkische Regierung Wirtschaft und Politik nach und nach um. Die Steigerung der Exporte des Landes war ein wichtiges Ziel. Im Zuge dessen wurden Großstädte wie Istanbul attraktiv für private und staatliche Investitionen. Geld floss insbesondere in Wohnungsbau und Infrastruktur.

Ein Amnestiegesetz führte in den 1980er Jahren zur De-facto-Legalisierung informeller Siedlungen. Das öffnete die betroffenen Grundstücke und Häuser für den Immobilienmarkt. Sie erfuhren eine große Wertsteigerung, wenn sie zudem an die städtischen Versorgungsnetze angeschlossen wurden.

Die steigende Nachfrage nach Wohn- und Büroraum verdrängte Gewerbe- und Industriegebiete ab den 1990er Jahren aus dem Zentrum an die Ränder der Stadt. Die Stadt setzte Großprojekte wie Massenwohnungsbau, den Bau der U-Bahn und andere Infrastrukturmaßnahmen unter Beteiligung türkischer und internationaler Unternehmen um.

Um Eigentumswohnungen, Bürokomplexe, Shopping-Malls und Hotels entwickeln zu können, investierten Privatunternehmen auch in die Wasserversorgung, die für diese Anforderungen unzureichend war.

Neue nationale Gesetze verliehen der Stadtverwaltung mehr finanziellen Handlungsspielraum, und sie verfolgte stärker unternehmerische Ansätze. Die Stadt sollte die Grundversorgung der Bevölkerung sicherstellen, gleichzeitig jedoch städtische Dienstleistungen gewinnorientiert oder mindestens kostenneutral zur Verfügung stellen.

Aufgaben wurden neu geordnet: Die zentrale Stadtverwaltung (Istanbul Metropolitan Municipality) wurde zuständig für gesamtstädtische Planungsverfahren und somit auch die Ausweisung neuer Wohnbaugebiete und den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Die Bezirksverwaltungen (District Municipalities) erhielten die Hoheit über das lokale Infrastrukturmanagement. Neu war zudem die Möglichkeit, kommunale Unternehmen zu gründen, die nach privatwirtschaftlichen Maßstäben agieren.

Für die Trinkwasserversorgung gründete die Stadtverwaltung ein solches Unternehmen (ISKI). Es baute unter anderem Wasserzähler in Gebäude ein, so dass jetzt der Verbrauch messbar ist und den einzelnen Wohnungen zugeordnet werden kann. Öffentliche Brunnen wurden stillgelegt. Reparaturen an den Leitungen verbesserten die Versorgungssicherheit, und Leitungsverluste nahmen ab. Die Stadt refinanzierte diese Investitionen, indem sie die Trinkwasserpreise anhob. Die Bewohner Istanbuls geben seitdem einen größeren Anteil ihres Einkommens für die städtische Versorgung mit Trinkwasser aus. Die Möglichkeit für ärmere Menschen, sich Trinkwasser kostenfrei über Brunnen oder Leitungen ohne Wasserzähler zu besorgen, verschwand zunehmend.


Auswirkungen auf das Umland

Am Beispiel der Trinkwasserversorgung wird deutlich, dass Istanbuls Urbanisierung und der Umgang der Stadt damit massive Auswirkungen auf das Stadt-Umland-Gefüge haben. Sieben Flüsse und Seen, die überwiegend außerhalb Istanbuls liegen, sichern den größten Teil der Trinkwasserversorgung der Stadtbevölkerung. Das Wasser gelangt entweder über städtische Leitungen oder über private Wasserlieferanten zu den Menschen. Zur Speicherung dienen dezentrale Tanks.

In neuen Siedlungen, die an das Bestandsnetz angeschlossen werden können, stellt ISKI die Trinkwasserversorgung bereit. In Stadtrandlagen, wo das nicht wirtschaftlich ist, bieten ISKI sowie Privatanbieter eine dezentrale Versorgung an. Die Konkurrenz der kommunalen und privaten Versorger wirkt sich positiv auf die Trinkwasserqualität und die Preise aus.

Da in Istanbul mit steigender Einwohnerzahl auch der Trinkwasserbedarf weiter zunimmt, wird zusätzliches Wasser mit Lkw aus immer weiter entfernten Regionen in die Stadt transportiert. Dadurch verknappt sich das Trinkwasser für die Bewohner und die Landwirtschaft in den Gewinnungsregionen. Solche Stadt-Umland-Kooperationen sind nur möglich, weil kommunale und privatwirtschaftliche Wasserversorger aus Istanbul Lieferverträge mit Regionalverwaltungen außerhalb der Stadtgrenzen schließen. In der Folge vergrößert sich der Konkurrenzkampf um die Wasserressourcen und steigen die Preise für die Belieferung der Stadtbevölkerung.


Fazit

Traditionell zielt die Stadt- und Infrastrukturentwicklung in Istanbul auf Wachstum ab. Gleichzeitig hat eine Flexibilisierung der Planungsinstrumente neue Möglichkeiten für staatliche und privatwirtschaftliche Akteure eröffnet, um die kommunale Infrastruktur zu verbessern.

Das führt einerseits zu zahlreichen Investitionen in bestehende Systeme – wie etwa die Wasserversorgung. Andererseits bringt das stetige Wachstum der Stadt neue Anforderungen für die städtische Infrastruktur mit sich.

Privatisierung und die Auslagerung staatlicher Aufgaben haben die Trinkwasserversorgung in Istanbul von einer kostengünstigen Daseinsvorsorge zu einem Handelsgut gemacht. Heute konkurrieren kommunale und rein privatwirtschaftliche Versorgungsunternehmen um Kunden und Ressourcen.

Die größte Herausforderung besteht darin, eine integrierte Entwicklung für die gesamte Metropolregion voranzutreiben. Hierzu sollte die Stadt die Zusammenarbeit mit Partnern in der Region ausbauen und bei der Planung neuer Wohnsiedlungen auch soziale und ökologische Faktoren stärker einbeziehen. Denn Flächenversiegelung für Wohnungsbau innerhalb der Stadt steht in direktem Zusammenhang mit Land-Stadt-Migration sowie Umweltproblemen im Umland. Die Stadtentwicklungsstrategie Istanbuls scheint bislang jedoch kaum auf einen Ausgleich der Lebensverhältnisse in der Region abzuzielen.


Sarah C. Schreiner ist freiberufliche Stadtplanerin und betreibt ein Ingenieurbüro in Hamburg.
dr.ing.schreiner@gmx.de

Governance

Um die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen, ist gute Regierungsführung nötig – von der lokalen bis zur globalen Ebene.