Stolperstein Wahlen
Wahlen auf dem Prüfstand
[ Interview mit Botschafter Christian Strohal ]
Seit fast zwei Jahrzehnten begleitet die OSZE Wahlprozesse in Europa, vor allem in den osteuropäischen Transformationsstaaten. Dafür schickt Ihre Organisation auch Wahlbeobachter in die Partnerländer. Nun haben Sie aber eine Mission abgesagt – es handelte sich dabei um die Präsidentenwahl in Russland am 2. März dieses Jahres. Was war der Grund dafür?
Die russischen Behörden hatten versucht, die Zahl der Beobachter und die Dauer der Wahlmission massiv einzuschränken. Wir haben einen klaren Auftrag von den OSZE-Teilnehmerstaaten, Wahlprozesse in ihrer Gesamtheit zu beobachten. Dies schließt die oft entscheidende Vorwahlzeit sowie die Entwicklungen im Anschluss an den Wahltag mit ein. Die uns auferlegten Einschränkungen hätten eine Beobachtung der Wahlen im Sinne dieses Mandats unmöglich gemacht.
Wie wichtig ist die Langzeitbeobachtung – das war ja bei den jüngsten Wahlen in Russland das größte Problem – wann muss so etwas anfangen, wann hört es auf?
Langzeitbeobachtung ist ein zentrales Element jeder Wahlbeobachtung. Wir entsenden unsere Wahlexperten und Langzeitbeobachter in der Regel einige Wochen vor dem eigentlichen Wahltag. Dies ermöglicht es uns, Kontakte mit den Behörden herzustellen und entscheidende Aspekte des Wahlprozesses wie beispielsweise die Registrierung der Kandidaten, die Mediensituation oder das Wahlkampfumfeld zu beobachten. Es gibt Wahlen, die praktisch schon in dieser Phase entschieden werden. Auch die Nachwahlzeit kann entscheidend sein. Wie werden die Wahlergebnisse auf den verschiedenen Ebenen zusammengestellt und veröffentlicht? Wie gehen die Wahlverwaltung und die Justiz mit eventuellen Beschwerden über Manipulationen um? Um solche Fragen beantworten zu können, bleiben unsere Langzeitbeobachter normalerweise auch nach dem Wahltag noch ein oder zwei Wochen im Land, bevor dann einige Wochen später unser Abschlussbericht veröffentlicht wird.
Bei der russischen Präsidentenwahl hat es andere Missionen gegeben: Der Deutsche Bundestag hat Wahlbeobachter geschickt, der Europarat auch. Ist ein Boykott, wie ihn die OSZE beschlossen hat, letztlich denn überhaupt sinnvoll?
Wir boykottieren nicht. Unsere Entscheidung, die Wahlbeobachtungsmission in Russland abzusagen, war nicht politisch motiviert. Für uns war einzig und allein unser Langzeit-Mandat entscheidend sowie die Standards, zu deren Einhaltung sich alle OSZE-Teilnehmerstaaten verpflichtet haben. Wir sind schließlich allen OSZE-Staaten gleichermaßen verantwortlich. Den Forderungen eines einzelnen Staates nach Ausnahmeregelungen nachzugeben, hieße den anderen Staaten gegenüber mit zweierlei Maß zu messen.
Erklärt man mit der Absage einer Wahlbeobachtungsmission nicht auch das Scheitern dieses politischen Instruments?
Keineswegs. Im konkreten Fall, also der russischen Präsidentenwahl, wie übrigens auch schon bei der Dumawahl im Dezember, konnten wir nicht anders entscheiden. Für eine sinnvolle Beobachtung fehlten die entsprechenden Rahmenbedingungen. Dies waren jedoch Sonderfälle, die in anderen OSZE-Staaten – und übrigens auch in Russland – bis dahin ohne Beispiel gewesen waren. Davon abgesehen, gibt es allerdings auch andere Situationen, in denen wir von der Entsendung einer Wahlbeobachtermission absehen – zum Beispiel in Ländern, in denen die grundlegendsten Voraussetzungen für die Abhaltung von demokratischen Wahlen nicht gegeben sind. Dort besteht die Gefahr, dass die bloße Anwesenheit internationaler Wahlbeobachter zur Legitimierung eines fundamental undemokratischen Prozesses führen könnte. In solchen Fällen bringt Wahlbeobachtung mehr Schaden als Nutzen. Andererseits gibt es auch Länder, deren Wahlprozesse sich im Rahmen unserer Bedarfsanalyse bereits so unbestritten demokratisch präsentieren, dass wir von der Entsendung einer Mission absehen können.
Wie bewerten Sie dann Wahlbeobachtungsmissionen generell: Sind sie ein Mittel, um Demokratie zu fördern?
Wahlbeobachtung kann eine Schlüsselrolle in Demokratisierungsprozessen spielen. Wahlen sind ein Kernelement von Demokratie – bei weitem nicht das einzige, aber ein sehr wichtiges. Die Anwesenheit internationaler Beobachter kann dazu beitragen, etwaige Schwachstellen in Wahlprozessen zu identifizieren und Empfehlungen zu entwickeln, wie diese behoben werden können. Dabei geht es nicht nur um die Organisation der Wahlen im engeren Sinne, sondern auch um Bereiche wie Medienfreiheit, Versammlungsfreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz. Wenn der nötige politische Wille entwickelt wird, diese Empfehlungen auch umzusetzen, dann kann unsere Beobachtung gemeinsam mit begleitenden technischen Hilfsprojekten zur Verbesserung von Wahlen führen und das Vertrauen der Öffentlichkeit in den demokratischen Prozess insgesamt stärken.
Oft hat man den Eindruck, Wahlen schaffen eher Probleme. Im Wahlkampf wird polarisiert, wo Wunden vielleicht noch nicht verheilt sind. Was können Sie aus Ihrer Erfahrung sagen, wie gefährlich ist eine Wahl?
Natürlich bringen Demokratisierung und Pluralismus manchmal ein gewisses Maß an Polarisierung mit sich. Das kann oft schmerzhaft sein, insbesondere in Gesellschaften, deren Vergangenheit von Gewalt und Unterdrückung geprägt war. Aber es gibt keine Alternativen. Legitimes Regieren ist ohne regelmäßige demokratische Wahlen nicht denkbar. Es ist eine Illusion zu glauben, dass man sich Stabilität auf Kosten von Demokratie und Menschenrechten erkaufen kann. Diese Erfahrung müssen wir wieder und wieder machen, auch in der OSZE-Region. Die Öffnung hin zu mehr Demokratie und Menschenrechten mag kurzfristig eine Zunahme an innenpolitischem Konfliktpotenzial zur Folge haben, langfristig aber birgt die Abwesenheit von Wahlen, in denen die Bevölkerung ihre politischen Präferenzen friedlich zum Ausdruck bringen kann, viel größere Gefahren für die Stabilität von Gesellschaften im Umbruch.
Sie reden von Standards, die eingehalten werden müssen, damit Wahlen als frei und fair bezeichnet werden können. Welche sind das vor allem?
Im OSZE-Kontext ist der umfassende Katalog von Verpflichtungen maßgebend, auf die sich die OSZE-Staaten 1990 in Kopenhagen geeinigt haben. Dies beinhaltet beispielsweise das Recht, ohne Diskriminierung für ein politisches Amt kandidieren zu können und Zugang zu den Medien zu erhalten. Es schreibt außerdem gewisse Standards für den Wahlkampf vor und verpflichtet die Behörden, die Ergebnisse von Wahlen zu veröffentlichen. Dies alles sind wichtige Elemente einer demokratischen Wahl. Leider müssen wir aber nach wie vor beobachten, dass Oppositionskräften unzählige Hürden in den Weg gelegt werden. Dadurch kann der faire Wettbewerb unmöglich gemacht werden. Das trifft zum Beispiel zu, wenn Oppositionspolitiker nicht zu Wahlen zugelassen werden oder wenn sie in ihrem Wahlkampf behindert werden. Häufig beanstanden wir in unseren Berichten auch, dass es Probleme beim Zugang zu den Medien und Unregelmäßigkeiten beim Auszählen der Stimmen gegeben hat.
Kann es da Einschränkungen geben? In vielen Ländern, nicht nur in Osteuropa, werden einige demokratische Grundsätze nicht ganz erfüllt. Es gibt Experten, die dann von einer „blockierten“ oder einer „Entwicklungsdemokratie“ reden. Im russischen Fall wird von einer „gelenkten Demokratie“ gesprochen. Muss man darauf nicht Rücksicht nehmen?
Unsere Aufgabe ist es, die Wahlen eines Landes an den Standards zu messen, zu deren Einhaltung sich die OSZE-Staaten verpflichtet haben. Diese Verpflichtungen gelten für alle OSZE-Teilnehmerstaaten in gleichem Masse.
Gibt es so etwas wie „ein bisschen“ Demokratie? Mit den ersten Wahlbeobachtungen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zum Beispiel könnte man diesen Eindruck bekommen haben: Viele Wahlen wurden als „im Großen und Ganzen“ frei und fair bezeichnet. Andere sagten, das Land sei „auf einem guten Weg Richtung Demokratie“. Hat sich diese Einstellung jetzt geändert?
Wir haben seit der Verabschiedung des wegweisenden Kopenhagen-Dokuments von 1990 enorme Fortschritte bei der Umsetzung von Verpflichtungen im Bereich von Demokratie und Menschenrechten gesehen, insbesondere natürlich in Mitteleuropa, aber auch in Teilen Ost- und Südosteuropas und – mit deutlichen Abstrichen – im südlichen Kaukasus und Zentralasien. Aber es gibt eben immer noch einige wenige Staaten, in denen die Umsetzung der OSZE-Verpflichtungen nur sehr schleppend vorankommt oder sogar Rückschritte zu verzeichnen sind. Wir werden uns aber weiterhin bemühen, durch Wahlbeobachtung sowie durch eine Vielzahl anderer Projekte in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Regierungen, anderen internationalen Organisationen und den lokalen Zivilgesellschaften die Demokratisierungsprozesse in der Region zu stärken.
Wenn Sie eine Mission abschließen und zum Ergebnis kommen, dass die Wahlen nicht den Standards entsprechen: Was passiert dann?
Wir veröffentlichen nach jeder Mission einen umfassenden Bericht, der eine Analyse des Wahlprozesses enthält sowie Empfehlungen und Verbesserungsvorschläge. Dieser Bericht wird der betreffenden Regierung und der OSZE-Staatengemeinschaft übermittelt und gleichzeitig der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die OSZE-Staaten haben sich verpflichtet, die Empfehlungen des ODIHR umzusetzen, und wir bieten dafür unsere volle Unterstützung an. Gleichzeitig werden unsere Berichte natürlich auch von der jeweiligen Zivilgesellschaft und der internationalen Staatengemeinschaft genutzt, um über unterschiedliche Kanäle auf die Umsetzung der Empfehlungen und eine Verbesserung des Wahlumfeldes hinzuwirken.
Weltweit werden Wahlen abgehalten und nicht überall kann oder darf die OSZE sein – vielleicht aber können Sie einen Tipp geben: Was müssen kleine und vielleicht auch ressourcenschwache Organisationen beachten, um Wahlen effektiv beobachten zu können?
Die ursprünglich innerhalb der OSZE entwickelte Methodologie zur Beobachtung von Wahlen wird ja mittlerweile auch von anderen Organisationen angewendet. Eine davon ist die Europäische Union, die außerhalb der OSZE-Region Wahlen beobachtet. Andere regionale oder subregionale Organisationen, wie etwa die Afrikanische Union, könnten in Zukunft eine größere Rolle in diesem Bereich spielen. Ganz wichtig ist auch die Rolle lokaler Beobachter. Es gibt eine Reihe von sehr professionellen Nichtregierungsorganisationen, deren Arbeit unsere volle Unterstützung verdient und in einigen Fällen durchaus auch die Anwesenheit internationaler Beobachter ersetzen kann.
Die Fragen stellte Meike Scholz.