Internationale Beziehungen
„Kein großes Gerede, sondern geteiltes Wissen“
Was ist der Vorteil, wenn nicht Staaten, sondern Gemeinden aus verschiedenen Ländern kooperieren?
Ein lokaler Ansatz bietet eine völlig andere Perspektive. Selbst wo Staaten nicht zusammenarbeiten können, sind lokale Gemeinden möglicherweise dazu imstande. Nach dem Zweiten Weltkrieg bot die Zusammenarbeit von Gemeinden die Chance, wieder gute Beziehungen aufzubauen. Man konnte die Menschen in dem anderen Land wieder als Nachbarn betrachten, nicht als Feinde. So entstand die Idee von Städtepartnerschaften: Sie ermöglichen, Frieden und Versöhnung zu praktizieren – eine Art internationale Diplomatie auf lokaler Ebene. Zwar scheinen die Aktionen einer einzelnen Städtepartnerschaft manchmal nicht viel zu bewirken, aber zusammen genommen verändern sie eine ganze Menge.
Kooperation zwischen Städten wird oft „weiche Diplomatie" genannt. Was meinen Sie dazu?
Der frühere Bürgermeister von Lyon, Edouard Herriot, hat mal gesagt: „Alles trennt die Nationen, aber alles vereint Städte." Auch wenn sich zwei Länder feindselig gegenüberstehen, sind die Beziehungen zwischen den Städten oft viel entspannter. Deshalb ist es beispielsweise in Post-Konflikt-Zonen viel leichter, zwischen Städten als zwischen Staaten zu kooperieren. Die Menschen akzeptieren diese Art der Zusammenarbeit besser.
Warum ist das so?
Es ist einfacher, auf einer persönlichen Ebene eine Verbindung aufzubauen. Bürgermeister in Afrika stehen vor denselben Herausforderungen wie Bürgermeister in Europa. Sie müssen Straßen bauen, öffentlichen Nahverkehr einrichten, Wasserversorgung bereitstellen et cetera. Die Bedürfnisse und Erwartungen sind anders, aber die grundlegenden Probleme sind dieselben. Kooperationen zwischen Stadtverwaltungen bringen die Bürger zusammen, nicht die Politiker. Es gibt keine Verträge, kein großes Gerede. Die Menschen teilen einfach ihre Erfahrungen und Expertise.
Was kann dezentralisierte Kooperation anbieten?
Sie kann lokale Dienstleistungen unterstützen. Jede Stadtverwaltung braucht alle Arten von Experten – zum Beispiel für Transportsysteme oder Wasserversorgung. Diese Expertise ist sehr spezifisch, und sie kann mit anderen Städten geteilt werden. Oft ist die Kooperation von europäischen mit nicht-europäischen Städten deshalb effektiver als die nationale Politik der offiziellen Entwicklungshilfe.
Besteht das Risiko, dass reiche europäische Städte ärmere Partner in anderen Regionen der Erde bevormunden?
Auf Gemeindeebene haben wir dieses Problem überwunden, selbst im Falle von früheren Kolonialmächten wie Großbritannien oder Frankreich. Hier ist es viel wichtiger, dass die Menschen die gleiche Sprache sprechen. Europäische Stadtverwaltungen haben Expertise im Regieren, aber ihr Modell kann nicht eins zu eins in einem anderen Land kopiert werden. Eine afrikanische Stadt braucht beispielsweise andere Methoden, ihre Bürger zu registrieren, wenn sie etwa eine Volkszählung machen oder Steuern erheben will. Das europäische Fachwissen kann da zwar nützlich sein, aber es muss der Situation im Land angepasst werden.
Haben europäische Stadtverwaltungen auch etwas davon?
Ja, normalerweise lernt die europäische Seite eine Menge, weil Afrikaner bei Problemlösungen sehr erfindungsreich sind. Zum Beispiel gibt es dort einen neuen Sektor von Kleinstunternehmen: Diese laden die Batterien von Mobiltelefonen auf für Leute, deren Wohnungen nicht am Stromnetz hängen. Diese Kreativität ist sehr inspirierend. Angesichts der Finanzkrise haben viele Gemeindevertreter in Europa das Gefühl, dass sie nicht ausreichend Geld haben, um ihren Verpflichtungen nachzukommen. Sie sollten sich Städte in Entwicklungsländern anschauen: Die haben noch viel weniger Ressourcen, und die Verantwortlichen müssen Ideen entwickeln, wie sie trotzdem die Leistungen erbringen können.
Wie können die Bürger an diesen Partnerschaften teilhaben?
Die Menschen können auf verschiedenen Ebenen teilnehmen. Migranten beispielsweise sind oft bei Aktivitäten dabei, die mit ihrer Heimatstadt zu tun haben. Wenn man sich auf ihr Input stützt und sie wirklich einbezieht, hilft es ihnen sogar dabei, sich besser an ihrem neuen Wohnort zu integrieren. Wenn wir mit der Diaspora kooperieren, können wir zudem aus ihren sprachlichen und kulturellen Verbindungen großen Nutzen ziehen. Und zu guter Letzt: Diese Kooperationen erweitern den Horizont von „eingeborenen" Europäern.
Gibt es Städtepartnerschaften, die Sie für besonders gelungen halten?
Ja, es gibt eine ganze Menge. Die Stadt Nantes in Frankreich zum Beispiel hat zusammen mit westafrikanischen Migranten ein Zentrum für städtische Dienstleistungen aufgebaut. Es ist eine Art Ausbildungszentrum für Stadtverwaltungsangestellte geworden. Die Partnerschaft von Stuttgart mit Istanbul ist ebenfalls bemerkenswert. Die Universitäten sind beteiligt und kultureller Austausch wird gefördert. Aber es gibt noch viel mehr positive Beispiele. Rund 10 000 europäische Stadtverwaltungen haben Partnerschaften mit einer afrikanischen Stadt.
Müssen immer die städtischen Behörden die Initiative ergreifen, wenn sie eine Partnerschaft in die Wege leiten möchten?
Nun, die Europäische Union setzt sich ebenfalls für dezentralisierte Kooperationen ein. Sie unterzeichnet nicht nur auf nationaler Ebene bilaterale Abkommen für Entwicklungsprojekte, sondern auch für dezentralisierte Projekte. Die EU fördert sie sogar finanziell. Auch nationale Regierungen machen das – zum Beispiel die Bundesrepublik. Aber nicht alle Lokalregierungen wissen von diesen finanziellen Mitteln. Meine Organisation, der Rat der Gemeinden und Regionen in Europa, gibt diese Information weiter.
Welches ist der wichtigste Zugewinn durch Städtepartnerschaften?
Die Stärkung der Lokalregierungen ist sehr wichtig; sie ist entscheidend in demokratischen Prozessen. Partnerschaften sollten immer die Lokalregierung stärken.
Was sind Ihre Empfehlungen für die Zukunft?
Wir wollen die Notwendigkeit der Zusammenarbeit auf allen Regierungsebenen betonen – lokal, national und sogar supranational. Außerdem müssen wir uns auf die UN-Städtekonferenz, die UN Habitat III, im Jahr 2016 vorbereiten. Hier können Ziele für lokale Entwicklung formuliert werden, in Kooperation mit
nationalen Regierungen und anderen Interessengruppen.
Die Fragen stellte Sheila Mysorekar.
Frédéric Vallier ist Generalsekretär des Rats der Gemeinden und Regionen in Europa (RGRE). Diese Organisation vereint 57 Dachverbände aus 41 Ländern, die insgesamt rund 150 000 Stadtverwaltungen in ganz Europa repräsentieren. Der RGRE kooperiert eng mit der Servicestelle Kommunen in der Einen Welt von ENGAGEMENT GLOBAL.
frederic.vallier@ccre-cemr.org