Sommer-Special
Von Wölfen und Menschen
Der Roman spielt während der Kulturrevolution in den 1960er Jahren in China: Der Pekinger Student Chen Zhen meldet sich freiwillig zum Arbeitseinsatz bei den nomadischen Viehhirten in der Inneren Mongolei, einem von fünf Autonomen Gebieten der Volksrepublik. Er ist von der archaischen und naturverbundenen Lebensweise der Mongolen fasziniert und studiert ihre Bräuche und Riten. Dazu gehört ihre besondere Beziehung zu den Wölfen des Graslandes: Die alten Mongolen verehren sie einerseits als Totemtiere und lassen ihre Verstorbenen von den Wölfen auffressen, um so in den Himmel (Tengger) zu gelangen. Andererseits fürchten sie die Raubtiere, die ihr Vieh vernichten, und führen erbitterte Kämpfe gegen die Rudel.
Chen Zhen ist das Alter Ego von Jiang Rong, der selbst von 1967 bis 1978 sein Leben als Schafshirte mit den Mongolen teilte. Er hat mit eigenen Augen gesehen, wie die Traditionen der alten Mongolen immer mehr vom modernen Lebensstil der ethnischen Mehrheit der Han-Chinesen verdrängt wurde, die die Tierproduktion im Grasland steigern und deshalb die Wölfe ausrotten wollten. Zudem trieb die chinesische Planwirtschaft den Ackerbau in der Gegend stark voran und zerstörte damit in wenigen Jahren das Gleichgewicht der Natur. Es geht also um den alten Konflikt zwischen Nomaden und Sesshaften, zwischen Viehhirten und Ackerbauern. Die traurige Konsequenz der chinesischen Politik: Heute gibt es vielerorts keine diversifizierte Landschaft mit einst unermesslichen Weideflächen mehr, sondern viele Gegenden in der Inneren Mongolei sind verödet und karg.
Jiang Rong ergreift eindeutig Partei für die Mongolen, die seiner Meinung nach den Charakter der Wölfe haben. Dieser zeichnet sich durch Freiheit, Unabhängigkeit, Zähigkeit, Konkurrenz-, aber auch Teamfähigkeit aus. Mit seinen anthropologischen Thesen über den Wolfs- und Schafscharakter des Menschen provoziert der Autor: Er spricht den Han-Chinesen aufgrund ihres trägen Gehorsams und ihrer Ignoranz gegenüber Umweltzerstörung eine Schafsmentalität zu. Damit blieben sie anderen Völkern immer unterlegen; es sei denn, sie eigneten sich den Wolfscharakter der Mongolen an.
Jiang Rongs Ausführungen und Thesen dürften auch dem autoritären Regime seines Landes nicht genehm sein. Dass der monumentale Roman überhaupt gedruckt werden durfte, verdankt der Autor seinem Pseudonym Jiang Rong. Wenn die Regierung gewusst hätte, dass er das Buch geschrieben hat, wäre es sicher verboten worden. Denn Lu Jiamin, so sein richtiger Name, wurde mehrmals als Konterrevolutionär verfolgt und war mehrere Jahre als politischer Gefangener inhaftiert.
Jiang Rong vertritt nicht nur interessante Thesen. Er ist auch ein hervorragender Schreiber. Es passiert zwar handlungsmäßig nichts Vielschichtiges. Denn Jiang Rong beschreibt in dem in der deutschen Fassung fast 700 Seiten (in der englischen Fassung über 500 Seiten) starken Roman das Alltagsleben der Hirten – ohne komplexe zwischenmenschliche oder tiefenpsychologische Ebenen. Doch gelingt es ihm (fast) immer, die Spannung aufrechtzuerhalten. Er beschreibt seitenlang Szenen, in denen die Wölfe nachts eine Pferdeherde angreifen, so plastisch, dass einen das grausame Gemetzel erschaudern lässt. Dem Wolfsangriff folgt als Revanche eine systematische Treibjagd, die der Grausamkeit der Wölfe in nichts nachsteht.
Der heute 69-jährige Autor Jiang Rong, ein emeritierter Professor für Wirtschaftspolitik, betrachtet es als einen großen Schritt in Richtung Meinungsfreiheit in China, dass sein Buch seit Erscheinen nicht verboten wurde, wie er in einem Interview sagte. Er hält sich in öffentlichen Debatten über seinen Roman aber lieber zurück, weil er eine Verschärfung der staatlichen Kontrolle fürchtet. Man dürfe das Regime nicht zu sehr provozieren. „Es braucht Zeit, bis die Einstellung sich verändert“, sagt er.
Sabine Balk
Literatur:
Jiang Rong, 2011: Der Zorn der Wölfe. München: Goldmann München.