Sommer-Special
Ungewöhnliche Freundinnen
Ich wünschte, alle, denen Flüchtlinge in Europa nicht behagen, würden dieses Buch lesen. Der Roman ist aus britischer Perspektive geschrieben. Der Autor Chris Cleave wurde 1973 in London geboren und ist laut Wikipedia in Kamerun und England aufgewachsen. Er hat Psychologie in Oxford studiert und lebt mit französischer Ehefrau und drei Kindern im britischen Königreich.
Zentrale Passagen seiner Geschichte spielen in London und Umland, aber nicht alle tun das. Er behandelt das stressige Leben einer erfolgreichen Journalistin mit schwieriger Ehe – und das sehr viel schwierigere und verstörendere Schicksal einer jungen Frau, die aus Nigeria flieht. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit begegnen sich die beiden und werden enge Freundinnen, die auf einander angewiesen sind, obwohl zwischen Menschen mit so unterschiedlichem Hintergrund keine Gleichheit möglich ist.
Den Alltag der Britin prägen Berufspflichten, eine außereheliche Beziehung und die Sehnsucht nach Glück. Die junge Nigerianerin erlebt Ausgrenzung, Vertreibung und, weil sie keine Papiere hat, Rechtlosigkeit in England. Die Journalistin macht sich Sorgen um die mentale Gesundheit ihres Mannes und die langfristige Zukunft ihres kleinen Sohnes; die Vertriebene muss zuhören, wie ihre Schwester vergewaltigt und ermordet wird. Die englische Frau will in der Welt etwas bewegen; ihre nigerianische Freundin will überleben.
Cleaves Roman ist brutal. Er schildert detailliert Mord, Verstümmelung und Selbstmord. Dabei konzentriert er sich darauf, was seine Protagonisten sehen, hören und riechen. Er erzählt ihre Geschichten jeweils in der ersten Person, wobei er zwischen Sara, der Britin, und Little Bee, der Nigerianerin, hin und her wechselt. Wir erfahren, was in ihren Köpfen vorgeht. Allerdings geschehen manche Dinge so schnell, dass den Romanfiguren für Nachdenken und Abwägen von Konsequenzen keine Zeit bleibt.
Der Plot mit den beiden höchst unterschiedlichen Frauen erscheint ausgesprochen unwahrscheinlich, aber er ist nicht völlig unmöglich. In unserer globalisierten Welt gibt es eigenartige Zufälle. Cleaves Geschichte ist erfunden, aber die verstörenden, grausamen Details entsprechen der Wirklichkeit. Die schrecklichsten Dinge, die im Buch geschehen, sind echt. Ja, Milizionäre vergewaltigen und quälen junge Frauen. Ja, Menschen fliehen ohne Pässe und Visa vor Gewalt, und dann müssen sie sich ständig vor der Polizei hüten. Ja, manche Asylsuchende nehmen sich, in reichen Ländern interniert, selbst das Leben.
Was Cleave schildert ist grausam, aber nicht bloße Fantasie. Er führt uns an viele unterschiedliche Orte – Flughäfen, Dschungelpfade, Londoner Gärten und Eigenheime oder nigerianische Strände zum Beispiel. Seine große Leistung ist zu zeigen, dass Alltag für verschiedene Menschen ganz verschiedene Dinge bedeuten kann – und dass das alles in der sich globalisierenden Weltgesellschaft real ist.
In Zeiten, in denen sich Europa von seinen eigenen Problemen überfordert fühlt, ist es wichtig, ohne jeden Zweifel klar zu machen, dass unser Kontinent extrem privilegiert ist. Vielen Europäern geht es wie Cleaves britischer Protagonistin Sara, sie leiden unter den Anforderungen des Alltags. Dennoch ist das Leben für Massen von Menschen weltweit viel, viel härter. Saras stressiges und aufreibendes Metropolenleben erscheint Little Bee idyllisch, sogar paradiesisch. Diese Differenz ist real – und es wäre gut, wenn alle Europäer sie verstünden und daraus einen Auftrag für globales Handeln ableiten würden.