Kolonialvergangenheit

Düstere Ära

Shashi Tharoor widerspricht der Vorstellung, zivilisatorische Motive hätten den britischen Imperialismus angetrieben. Die Kolonialmacht verfolgte vielmehr eng verstandene Wirtschaftsinteressen und beutete den Subkontinent systematisch aus.
Indische Soldaten in britischem Dienst während des Ersten Weltkriegs in Frankreich. picture-alliance/akg-images Indische Soldaten in britischem Dienst während des Ersten Weltkriegs in Frankreich.

Tharoor ist ein renommierter Autor. Sein neues Buch zeigt, dass konservative Intellektuelle, die den britischen Imperialismus rechtfertigen, falschliegen. Kolonialismus war keine zivilisatorische Mission, sondern ein ausbeuterisches Regime. Die britische East-India-Company war von Anfang an ein profitorientiertes Unternehmen, wie Tharoor betont. Sie entstand im Jahr 1600 und sollte mit Seide, Gewürzen und anderen Waren handeln. Bald kontrollierte sie fast den ganzen indischen Subkontinent. Die Firma war bis 1858 de facto der souveräne Machthaber. Dann übernahm nach der Niederschlagung eines Aufstands der britische Staat die Kolonie.

Tharoor erläutert, dass die Briten die indische Industrie, deren Textilien, Stahl und Schiffe zuvor Weltruf genossen hatten, unterbanden und die Wirtschaft weitgehend auf Rohstoffproduktion ausrichteten. Sie selbst schätzten, dass sie in Indien die höchsten Steuersätze weltweit erhoben und dass diese um den Faktor zwei bis drei über dem Niveau lagen, das frühere Herrscher kassiert hatten. Mit den Einnahmen wurde unter anderem eine Armee finanziert, die sich auf indische Soldaten stützte und auch in anderen Weltgegenden eingesetzt wurde.

Korruption war weit verbreitet, denn britische Beamte vermischten gern amtliche und private Geschäfte. Selbst in London herrschte Sorge darüber, aus Indien herbeigeschaffter Reichtum unterminiere gewohnte Normen.

Es heißt immer wieder, trotz aller Härten sei der britische Imperialismus auf aufklärenden Despotismus hinausgelaufen. Tharoor widerspricht dieser Sicht vehement. In Indien sei die Grundbildung so sehr vernachlässigt worden, dass die Alphabetisierungsrate zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit 1947 nur 16 Prozent betrug (und für Frauen sogar nur acht Prozent).

Laut Tharoor starben zudem von 1891 bis 1900 rund 17 Millionen Menschen den Hungertod, und die bengalische Hungersnot tötete 1943 weitere 4 Millionen. Premierminister Winston Churchill gab seinerzeit den Opfern wegen ihrer „kaninchenhaften Vermehrung“ selbst die Schuld. Tatsächlich führte die Kolonialmacht jedoch auch in den genannten Notjahren Nahrungsmittel aus Indien aus.

Tharoor hält manche britische Hinterlassenschaften – etwa die Rechtsstaatlichkeit – heute für wertvoll. Aus seiner Sicht sind dies aber unbeabsichtigte Nebenwirkungen. Er lässt keinen Zweifel daran, dass die Gerichte nicht unparteiisch, sondern rassistisch waren. Obwohl Inder massenweise unter der weißen Herrschaft starben, seien beispielsweise nur in drei Fällen Briten wegen Morden an Indern verurteilt und hingerichtet worden.

Wie Tharoor schreibt, erwies sich das Prinzip „Teile und herrsche“ als so erfolgreich, dass Indien und Pakistan beim Abzug der Kolonialmacht in zwei Länder gespalten wurden. Heute sind sie nuklear bewaffnete Feinde.

Dass die indische Gesellschaft in Kas­ten, Glaubensrichtungen und Sprachgemeinschaften gespalten ist, ist allgemein bekannt. Weniger bekannt ist aber, dass die Briten diese Differenzen systematisch betonten und vertieften. Die Kolonialherren definierten verschiedene soziale Gruppen und gaben deren Traditionen quasi Gesetzesrang. Vorgeblich schützte diese Politik die Gemeinschaften, sie spielte sie aber zugleich gegeneinander aus.

Tharoor ist ein interessanter Autor. Er war stellvertretender UN-Generalsekretär und später indischer Bildungsminister. Skandalöserweise wurde seine Frau Sunanda Pushkar 2014 tot in einem Hotel in Delhi gefunden. Sie starb an einer Vergiftung. 

Die indische Gesellschaft ist von verschiedenen Religionen und vielfältigen Traditionen geprägt. Dennoch ist das Zusammenleben meist friedlich. Tharoor erfasst derlei richtig, könnte aber noch stringenter argumentieren. Er erwähnt nur beiläufig, dass der Hindu-Chauvinismus von Premierminister Narendra Modi Wurzeln in der kolonialen Propaganda hat, die die Differenzen zwischen Hindus und Moslems betonte. Das autoritäre Erbe des Imperialismus wirkt stärker nach, als Tharoor ausführt. Dass ein Autor dieses Kalibers eine Britannien-kritische Polemik verfasst hat, ist dennoch aufschlussreich.


Literatur
Tharoor, S., 2017: Inglorious empire – What the British did to India. London: Hurst (zuvor in Indien erschienen unter dem Titel „An era of darkness“ bei Aleph Books, New Delhi).

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