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Fachdebatte

Die Macht der Wahlen

Die Wiedereinführung von Parteienwettbewerb und Wahlen seit mehr als anderthalb Jahrzehnten in Afrika wird oft nicht ganz ernst genommen. Mit der Feststellung, Wahlen seien noch keine Demokratie, wird ihre Bedeutung heruntergespielt. „Elektoralismus“ ist ein abschätziger Terminus, der auf prozedurale Formalitäten anspielt. Bisweilen distanziert sich dieser Skeptizismus auch von Demokratieförderern, die vor allem auf den ordentlichen Verlauf von Wahlen abstellen. Diese Kritik geht weitgehend fehl.


[ Von Gero Erdmann ]

Die Wahlskeptiker verkennen, dass es ohne Wahlen keine Demokratie gibt, und dass formal korrekte Wahlen unverzichtbar für die Legitimation jedes demokratischen Regimes sind. Staffan Lindberg (2006) untermauert das mit seiner detaillierten Untersuchung von Wahlen in Afrika von 1989 bis 2003. Auf der Grundlage einer systematischen Datenanalyse von 232 Mehrparteienwahlen in 44 Ländern kommt er zu weit reichenden und wohlbegründeten Schlussfolgerungen über die „Macht der Wahlen“ – so der ursprüngliche Titel der Untersuchung:
– Wahlen bilden nicht den Abschluss von demokratischen Regimewechseln, sondern sie befördern die Liberalisierung von Regimen.
– Wahlen haben eine selbst verstärkende Wirkung, weil ihre Qualität mit jeder Wiederholung steigt. Statistisch gesehen wird nach drei Mehrparteienwahlen ein Regimezusammenbruch immer seltener.
– Wahlen vertiefen die Institutionalisierung von bürgerlichen und politischen Freiheitsrechten.
Lindberg spricht zu Recht von einer „Selbstverbesserungsqualität“ von Wahlen. Das, was oft als „nur prozedural“ abgetan wird, hat in Wirklichkeit eigenen Wert und eigene Qualität.

Ein Schwachpunkt ist indessen seine Schlussfolgerung, dass bessere Wahlen die Qualität der Demokratie an sich steigern. Dieses Argument ist monokausal und kann ein Trugschluss sein. Zum Einen bleiben die Jahre zwischen den Wahlen außerhalb der Betrachtung, in denen sich der demokratische Charakter eines Regimes erweisen muss; zum Anderen gilt, dass demokratische Qualität und Konsolidierung tatsächlich nicht allein von Wahlen, sondern auch von zahlreichen anderen Faktoren abhängen.

Die Bedeutung von Lindbergs Arbeit reicht weit über seinen konkreten Gegenstand hinaus. Er zeigt, dass Politik in Afrika nicht nur in unfassbarer Informalität beschrieben werden kann, wie prominente Kollegen wie Patrick Chabal, Jean-Françoise Bayart und auch Göran Hyden behaupten. Vielmehr spielen formale Institutionen inzwischen auch in Afrika eine Rolle.

Geringe Reformneigung

Indirekt wird Lindberg von Christof Hartmann (2007) unterstützt. Er untersucht in einem von mir mitherausgebebenen Buch (2007) Wahlreformen in Afrika. Hartmann hält fest, dass derlei eher selten ist und dass nur in vier Fällen (Namibia, Südafrika, Sierra Leone und Liberia) ein grundlegender Systemwechsel vom Mehrheits- zum Verhältniswahlsystem vorgenommen wurde. Der Befund überrascht zunächst, da die vielen Regimewechsel von Ein- zu Mehrparteiensystemen in Afrika nahe legen, dass auch das Wahlsystem gewechselt wurde, was Oppositionsparteien auch oft fordern.

Die dennoch geringe Reformneigung erklärt Hartmann im Wesentlichen mit
– der verbreiteten Unkenntnis über mögliche Systemalternativen (vor allem angesichts des hohen Zeitdrucks in Transitionsprozessen) und
– der hohen Unsicherheit, die mit solchen Reformen verbunden ist, da keiner der Beteiligten die machtrelevanten Ergebnisse absehen kann.
Selbst Oppositionsparteien, die anfangs eine Reform fordern, sehen nach eingehender Diskussion oft davon wieder ab, weil sie meinen, dass das existierende Wahlsystem auch für sie von Vorteil sein werde, sobald sie einmal an der Macht sind. Es ist in jedem Fall bezeichnend, dass die grundlegenden Wahlsystemwechsel in Ländern stattfanden, die Zeit hatten, Alternativen zu prüfen und die – mit der Ausnahme Südafrikas – unter starkem internationalen Einfluss standen.

All dies sollte denen eine Warnung sein, die im Übergang zum Verhältniswahlsystem eine schnelle und einfache Lösung für Repräsentanzprobleme in multiethnischen Gesellschaften sehen. Meist verkennen sie ohnehin, dass die vielfach kritisierte einfache Mehrheitswahl in Einpersonenwahlkreisen weitgehend auf anglophone Länder beschränkt ist.

Gewalttätige Politik

Mit einem kaum erforschten, aber immer wieder zu beobachtenden Phänomen befassen sich im selben Buch zwei Abhandlungen von Andreas Mehler und Liisa Laakso: Gewalt in und um Wahlen. Mehler zeigt explorativ, dass Parteien in aller Regel die wichtigsten Gewaltakteure im Umfeld von Wahlen sind. Sie versuchen so, das Ergebnis zu beeinflussen. Dieses Mittel ist keineswegs auf klassische Antisystemparteien oder „normale“ Oppositionsparteien beschränkt, sondern wird auch von Regierungsparteien eingesetzt. Letztere haben zumeist einen Vorteil durch die „parteilich“ agierende Staatsgewalt.

Den gezielten Einsatz von Gewalt durch gouvernmentale und oppositionelle Parteien bei Wahlen analysiert Liisa Laakso an den Beispielen Kenia (1992, 1997, 2002), Tansania (2000) und Simbabwe (2002, 2005). Es wird deutlich, dass elektorale Gewalt kaum spontan ausbrach, sondern meist gezielt organisiert wurde, wobei oft Jugendorganisationen der Parteien zentrale Rollen spielten. Die Ereignisse im Umfeld der jüngsten Wahlen in Kenia und Simbabwe bestätigen Laaksos Beobachtungen nachdrücklich.

Systemvergleich

Auf sehr viel breiteren und gesicherten Erkenntnissen beruht Dieter Nohlens „Wahlrecht und Parteiensystem“, das nun in der fünften Auflage vorliegt. Es ist das Standardwerk zum Thema schlechthin, das in Systematik und weltweitem empirischen Bezug auch international seinesgleichen sucht. Nohlen informiert grundlegend über technischen Details und politische Implikationen von Wahlsystemen. Er erläutert, wie immer wieder neue Systeme durch vielfältige Kombinationen bekannter Elemente erfunden werden. Nohlen beschränkt sich nicht auf die westliche Welt, sondern berücksichtigt im intraregionalen Vergleich spezifische Probleme in Afrika, Asien und Lateinamerika.

Instruktiv ist die Diskussion der politischen Auswirkungen der verschiedenen Wahlsysteme. Hier wird deutlich, dass zahlreiche landläufig behauptete Folgen von bestimmten Systemen historisch-empirisch nicht bestätigt werden. Beispielsweise verhindert auch die radikale Ausformung des Mehrheitswahlsystems (relative Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen) keineswegs immer die Zersplitterung des Parteiensystems. Andererseits ist auch mit der reinen Verhältniswahl durchaus die Konzentration auf zwei oder drei Parteien möglich. Die behaupteten Vorzüge oder Nachteile der Wahlsysteme können sich unter verschiedenen gesellschaftlichen und politisch-institutionellen Bedingungen völlig unterschiedlich auswirken.

Nohlens zentrale These ist: Die Wirkungen eines Wahlsystems werden immer vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext mitbestimmt. Die Bewertung eines Wahlsystems hängt davon ab, welche Kriterien zugrunde gelegt werden: Wird stärkeres Gewicht auf die möglichst spiegelhafte Repräsentation der politisch-gesellschaftlichen Vielfalt oder die möglichst leichte Mehrheitsbildung gelegt?

Nohlen macht – unter anderem in Auseinandersetzung mit prominenten Parteien- und Wahlsystemforschern wie Giovanni Sartori und Arend Lijphart – deutlich, dass es das beste Wahlsystem nicht geben kann. Vielmehr kommt es darauf an, dass ein Wahlsystem zum gesellschaftlichen Kontext passt. Für die Politikberatung bedeutet dies, sich am konkreten Fall zu orientieren und möglichst viele der verschiedenen, miteinander verknüpften Faktoren zu berücksichtigen.

Die gerne erhobene Forderung nach Einfachheit des Wahlsystems, die nicht nur auf Länder mit niedrigem Bildungsniveau zielt, kann folglich nicht der maßgebliche Bezugspunkt sein. Jedes Wahlsystem soll helfen, komplexe politische Probleme zu lösen. Dafür muss es mehrere Funktionen erfüllen, was oft nur die mühsame Kombination von verschiedenen Wahlrechtselementen gewährleisten kann. Das ist auch der Grund, warum immer wieder neue Wahlsysteme erfunden werden. Und dabei zeigt sich, dass auch in so genannten „unterentwickelten“ Ländern Wähler mit komplizierteren Wahlsystemen zurecht kommen.