Wegweisendes Gerichtsverfahren
Andenbauer gegen Großkonzern
Der Bauer und Bergführer Saúl Luciano Lliuya und mit ihm über 50 000 Einwohner*innen der Andenstadt Huaraz sind durch die Gletscherschmelze bedroht. Der Gletschersee Palcacocha, der einige Kilometer oberhalb von Huaraz liegt, ist laut der zivilgesellschaftlichen Organisation Germanwatch seit 2003 um mehr als das Vierfache und seit 1970 um das 34-Fache angewachsen. Durch die Erderwärmung steigt das Risiko, dass sich große Eisblöcke von Gletschern lösen und in den See stürzen. Dies würde eine verheerende Flutwelle und eine meterhohe Überschwemmung in der Stadt verursachen.
Saúl Luciano Lliuya will das nicht hinnehmen. Im November 2015 reichte er mit Unterstützung von Germanwatch vor einem deutschen Zivilgericht eine Klage gegen den Energiekonzern RWE ein. Das Unternehmen steht stellvertretend für viele Konzerne, deren Geschäftsmodell auf fossiler Energie beruht. RWE ist als einer der größten CO2-Emittenten Europas und größter Emittent Deutschlands mitverantwortlich für die Klimakrise.
Das Besondere an der Klage: Erstmals verlangt eine von der Erderhitzung betroffene Person von einem Privatunternehmen, sich an Schutzmaßnahmen zu beteiligen. Lliuya fordert, dass RWE Schutzmaßnahmen am Palcacocha-Gletschersee mitfinanziert – in einer Größenordnung, die dem Anteil des Unternehmens an der globalen Klimakrise entspricht.
Die Untersuchung „Carbon Majors“ der zivilgesellschaftlichen Organisation „Climate Justice Programme“ von 2014 zeigt, dass RWE für 0,47 Prozent aller seit Beginn der Industrialisierung freigesetzten Treibhausgasemissionen weltweit verantwortlich ist. Die Konstruktion eines Schutzdammes an dem Andensee kostet laut Germanwatch etwa 4 Millionen Dollar. Rund ein halbes Prozent davon wären 20 000 Dollar, die RWE beizusteuern hätte.
Wasserknappheit und Flut als Risiken
Möglicherweise kann sich RWE aus rechtlichen Gründen nicht an den direkten Schutzmaßnahmen am See beteiligen. In diesem Fall fordert der Kläger, dass der Konzern einen Teil der Kosten für Maßnahmen übernimmt, die nötig sind, um sein Haus gegen das Flutrisiko zu schützen.
Wichtig war Lliuya aber von Anfang an, dass nicht nur er allein von einer solchen Klage profitiert. Er setzt sich für den Schutz seiner Heimatstadt und ihrer Bevölkerung ein. Der Gletscherrückgang könnte in Zukunft nicht nur zu einer Flut, sondern auch zu Wasserknappheit führen. Der Aktivist will die Bevölkerung vor Ort über Klimarisiken aufklären und mit ihnen Strategien zur Anpassung entwickeln. Auch die peruanischen Behörden sollen zur Verantwortung gezogen werden, um ihren Vorsorge- und Schutzpflichten nachzukommen. Letztlich soll ein Präzedenzfall geschaffen werden, auf den sich andere von der Klimakrise Betroffene vor Gericht berufen können und der zusätzlichen Druck auf die Politik ausübt.
Gericht nimmt Beweise auf
Zu Beginn seines Vorhabens musste der Peruaner eine Niederlage hinnehmen. Das Landgericht Essen hatte seinen Antrag in erster Instanz 2016 abgelehnt. Doch die nächste Instanz, das Oberlandesgericht Hamm (OLG), stellte Ende 2017 fest, dass es einen zivilrechtlichen Anspruch gegen RWE grundsätzlich für möglich hält, und entschied für eine Beweisaufnahme. Das bedeutete einen großen Erfolg für die Klimabewegung: Erstmals bejahte ein Gericht, dass ein Privatunternehmen prinzipiell für seinen Anteil an klimabedingten Schäden verantwortlich ist.
Angst vor Klagewelle
Das OLG entschied, Beweise vor Ort in Huaraz aufzunehmen, was aufgrund der Corona-Pandemie aber mehrmals verschoben wurde. Ende Mai 2022 reisten dann zwei Richter des OLG und vom Gericht bestellte Gutachter nach Peru, um herauszufinden, ob das Haus des Klägers tatsächlich von einer Flutwelle bedroht ist.
Das Gutachten wird dem Gericht und den Parteien vorgelegt werden, noch steht es aus. Danach haben die Prozessbeteiligten Zeit, darauf zu reagieren. Es ist möglich, dass das Gutachten anschließend auch in einer mündlichen Verhandlung diskutiert wird. Laut Medienberichten rechnet das OLG für die erste Jahreshälfte 2023 mit der nächsten mündlichen Verhandlung.
RWE bezweifelt neben der Haftungspflicht auch die Zulässigkeit der Klimaklage. Vor Gericht äußerten Anwälte des Unternehmens Sorge, dass diese eine Klagewelle gegen Unternehmen auslösen könnte. Der Konzern versucht darzulegen, dass eine Zuordnung von Emissionen einzelner Emittenten zur Gletscherschmelze in den Anden nicht möglich sei. Zudem bezweifelt RWE, dass die Klimakrise überhaupt die Gletscherschmelze verursacht.
Die Wissenschaft liefert derweil neue Argumente für Lliuya. Forschende der University of Oxford modellierten den Rückgang eines Gletschers oberhalb des Palcacocha-Sees und das Überflutungsrisiko. Sie konnten erstmals eine relativ klare Kausalitätskette für eine drohende Überflutung belegen.
Klimaaktivist*innen fordern schon lange, dass Länder mit hohen zurückliegenden und aktuellen Emissionen als Verursacher der Erderhitzung Länder mit geringen Einkommen beim Umgang mit Schäden und Verlusten finanziell unterstützen. Auch Unternehmen wie RWE sollten sich an den Kosten beteiligen, die sie mit ihrem Geschäftsmodell verursachen. Die Klage von Saúl Luciano Lliuya treibt diese Debatte maßgeblich voran.
Link
Themenseite zur Klimaklage:
https://rwe.climatecase.org/de
Sabine Balk ist FAZ-Redakteurin und freie Mitarbeiterin bei E+Z/D+C.
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