Volkswirtschaftliche Dogmen

Wechselseitige Pflichten

Paul Colliers neues Buch „The future of capitalism“ ist eine Reaktion auf das Brexit-Referendum und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Der VWL-Professor aus Oxford untersucht, weshalb sich viele Wähler im Stich gelassen fühlen und wie soziale Inklusion zu stärken wäre.
Manche Briten finden internationale Regeln noch immer gut: Anti-Brexit-Protest in London. Haria/picture-alliance/dpa Manche Briten finden internationale Regeln noch immer gut: Anti-Brexit-Protest in London.

Collier schreibt, sein Berufsstand trage einen Teil der Verantwortung für den Aufstieg von Rechtspopulisten. Er habe marktradikale Doktrinen propagiert und damit die Gesellschaft verzerrt. Es sei schlicht falsch, dass dem Gemeinwohl am besten gedient sei, wenn jeder sich nur um seine eigenen Interessen kümmere. Der VWL-Professor betont, Adam Smith habe zwar festgestellt, dass Altruismus nicht nötig und die Verfolgung eigener Interessen legitim sei – er habe aber zugleich die Bedeutung wechselseitiger Verpflichtungen betont. Collier betont, der schottische Moralphilosoph hätte nie für „Geiz ist geil“ oder dergleichen geworben. Solche Slogans nährten den Egoismus.

Der prominente Entwicklungsökonom schreibt, Privatunternehmen müssten mehr tun, als nach Profiten zu streben. Ihre Beschäftigten müssten ihre Arbeit als sinnvoll erkennen. Zudem müssten Firmen die Bedürfnisse und Interessen vieler verschiedener Akteure berücksichtigen. Die Gesetzgebung, schreibt Collier, sollte sie darauf festlegen. Marktorthodoxe Doktrinen hätten dagegen soziale Klüfte wachsen lassen.

Weil Ökonomen allzu simple Lösungen propagiert hätten, sollten sie aus Colliers Sicht nun öffentlich für dreifaches Versagen Schuld anerkennen:

  • Es sei zwar richtig, dass internationaler Handel alle beteiligten Volkswirtschaften insgesamt wohlhabender mache, ohne faire Umverteilung der Zuwächse würden aber manche Bevölkerungsgruppen ärmer.
  • Es stimme zwar, dass Überregulierung die Wirtschaft bremse – zu geringe Regulierung sei aber auch schädlich. So könnten etwa multinationale Konzerne heute Steuern weitgehend vermeiden, weil ihre vielen Tochterunternehmen in aller Welt keiner kohärenten Gesetzgebung unterlägen (siehe Schwerpunkt über Steuerpolitik in E+Z/D+C e-Paper 2018/01).
  • Migration nütze sowohl den Menschen, die im Ausland gut bezahlte Jobs fänden, sowie deren Arbeitgeber – sie mache aber das Leben für Bevölkerungsgruppen mit niedrigen Einkommen härter, weil die Konkurrenz um erschwinglichen Wohnraum sowie um attraktive Beschäftigungschancen zunähme.

Die Politik habe auf diese Probleme nicht angemessen reagiert, konstatiert Collier. Grundsätzlich findet er, drei Kategorien von Pflichten sollten Gesellschaften binden:

  • Wer existenziell Not leide, habe Anspruch auf Hilfe.
  • Alle profitierten darüber hinaus von wechselseitigen Verpflichtungen.
  • Systeme wechselseitiger Pflichten könnten im aufgeklärten Eigeninteresse aller Parteien erweitert werden.

Diese Grundsätze wendet der Wirtschaftswissenschaftler auch auf internationale Beziehungen an. Die internationale Staatengemeinschaft habe beispielsweise das World Food Programme, die World Health Organization und andere Institutionen geschaffen, deren Kernaufgabe die Rettung Bedürftiger sei. Derweil sorge der UN-Sicherheitsrat im Sinne wechselseitiger Verpflichtung für Frieden – könne das aber nur tun, wenn die permanenten Mitglieder kollektives Handeln nicht blockierten.

Collier warnt indessen, manche internationale Organisationen seien zu quasi-imperialen Körperschaften geworden. Der Internationale Währungsfonds (IWF) sei ursprünglich als eine Art Bank auf Wechselseitigkeit gedacht gewesen, habe sich aber zum Machtinstrument entwickelt, mit dem reiche Nationen in Krisensituationen ärmeren Ländern politische Konzepte aufdrückten (siehe Schwerpunkt in E+Z/D+C e-Paper 2018/08).

Ähnlich schätzt Collier auch die EU ein. Sie sei nicht mehr klar als Club sich gegenseitig unterstützender Mitglieder zu erkennen. Stattdessen schrieben mächtige Länder zunehmend den anderen vor, was zu tun sein. Die tonangebenden Länder hätten Konflikte mit den östlichen sowie südlichen Nachbarn – und darüber hinaus mit Britannien.

Collier will, dass der Kapitalismus kompetent reguliert wird. Märkte erzeugten Wohlstand, der im Sinne wechselseitiger Verpflichtungen fair geteilt werden sollte. Folglich sei der richtige Weg der Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern, wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die verantwortungsvolle Unternehmer, die Collier von bloßen Profiteuren unterscheidet, attraktiv fänden.

Colliers Ausführungen sind plausibel. Sein kurzes Buch bietet nicht auf alle relevanten Fragen eine Antwort, aber es hilft zu verstehen, weshalb Rechtspopulisten in reichen Ländern Zulauf haben. Es erklärt indessen nicht, weshalb frustrierte Bürger unverantwortliche Politiker wählen, die alles nur noch schlimmer machen.


Buch
Collier, P., 2018: The future of capitalism. Facing the new anxieties. London: Allen Lane.

Auf Deutsch, 2019: Sozialer Kapitalismus! München: Siedler