Favelas

„Anders, als die Besucher erwarten“

Die mehr als 1000 Favelas von Rio de Janeiro galten lange nur als Orte der Gewalt. Zunehmend interessieren sich aber auch Touristen für die Armenviertel. Oberdan Basilio Chagas führt als Guide Besucher in seine Favela. Er erklärt Julia Jaroschewski, warum er den Favela-Tourismus gut findet.
Immer mehr Touristen wollen das Leben in der Favela Rocinha kennenlernen und schauen sich das Armenviertel bei einer Tour an. Jaroschewski Immer mehr Touristen wollen das Leben in der Favela Rocinha kennenlernen und schauen sich das Armenviertel bei einer Tour an.

Rio ist bekannt für seine Strände, den Zuckerhut und die Christusstatue. Doch immer mehr Touristen wollen auch die Favelas kennenlernen. Manche Tour-Anbieter fahren Besucher in Jeeps durch die Favelas – ist das nicht wie im Zoo?
Ich mache meine Touren zu Fuß und zeige den Touristen die Favela Rocinha, in der ich lebe. Rocinha ist die größte Favela Brasiliens. Ich laufe mit der Gruppe durch die kleinen Gassen und die verschiedenen Teile des Viertels. Wir schauen uns Läden an und sind nah dran am Alltag der Bewohner. Meine Walking-Tour wird meistens von Ausländern nachgefragt, selten von Brasilianern.

Was möchten Sie den Touristen vermitteln?
Meine Gäste sehen, dass die Favela ganz anders ist, als sie in den Medien dargestellt wird. Deswegen mache ich diese Touren: Um den Touristen zu zeigen, dass die Favelas nicht nur Gewalt und Kriminalität bedeuten.

Viele Touristen besuchen eine Favela gerade mal für ein paar Stunden oder maximal einen Tag – reicht das, um tatsächlich die Realität eines Armenviertels kennenzulernen?
Die meisten Gäste besichtigen die Favelas für ungefähr vier bis fünf Stunden. Diese Zeit reicht, um einen ersten Eindruck zu bekommen. Andere Besucher bleiben sogar ein paar Tage, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was es bedeutet, tatsächlich in einer Favela zu leben.

Wie lange arbeiten Sie schon im Tourismus?
Ich arbeite seit mehr als drei Jahren in einem Hostel in meiner Favela und bin etwas länger als sechs Monate Tourguide.

Wie sind Sie zu Ihrem Job gekommen?
Mein älterer Bruder hat mich dazu motiviert. Er lebt mittlerweile in Australien. Ich habe angefangen, Englisch zu lernen, und gemerkt, dass ich das sinnvoll einsetzen kann. Deshalb habe ich mich für Tourismus entschieden. Während der Fußball-WM im vergangenen Jahr kamen sehr viele Touristen nach Rio und ich konnte dementsprechend viel arbeiten.

Hat die WM mehr Touristen in die Favelas gebracht als vorher?
O ja, es gab in der gesamten Stadt unglaublich viele Touristen. Mal davon abgesehen, dass Rio grundsätzlich das ganze Jahr über viele Touristen anzieht, hat die WM noch mal alles überboten. Es war ja auch ein Ereignis von großer internationaler Bedeutung.

Waren das sogar zu viele Besucher?
Es gab tatsächlich viele Gruppen. Die größte, die ich hatte, bestand aus 15 Personen. Aber es waren nicht zu viele. Im Gegenteil, es war sehr cool, da viele unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen ­Nationalitäten kamen.

Welchen Einfluss hatte die WM auf die Favelas, mal abgesehen davon, dass sich mehr Menschen einen Eindruck von ihnen machen wollten?
Die Touristen brachten einen Schub für die lokale Wirtschaft. Die Besucher haben in der Favela ge­gessen und getrunken und haben damit auch den Einwohnern in gewisser Form geholfen.

In den Favelas sprechen wenige Bewohner Englisch. Gibt es dennoch einen Austausch zwischen Bewohnern und den Besuchern?
Ja, es kommt oft zu schönen Zusammentreffen mit gegenseitigem Interesse. Die Bewohner wollen meistens mehr über die Touristen wissen. Sie wollen die Ausländer kennenlernen, weil die aus ganz anderen Weltregionen wie Europa, Australien oder den USA kommen. Die meisten Besucher wiederum sehen in der Favela ein Leben, das sich von ihrer Realität komplett unterscheidet und wollen mehr darüber erfahren. Sie wollen wissen, ob das Viertel tatsächlich so ist, wie es ihnen erzählt wird, wie die Lebensumstände sind und ob die Gefahr dort groß ist.

Haben die Favela-Bewohner Vorurteile gegenüber den Touristen – denken sie, dass Ausländer reich sind und zu viel Geld haben, wenn sie für eine Tour durch ein Armenviertel bezahlen?
Nein, diese Art Vorurteile habe ich in meiner Favela bislang nicht erlebt. Die Bewohner sehen, dass die Touristen dem Viertel nutzen.

Manche finden, Favela-Tourismus ist eine Art Besichtigung der Armut. Andere sehen darin eine Stärkung der lokalen Strukturen. Wie denken  Sie darüber?
Ich sehe keine Nachteile, im Gegenteil, eigentlich nur Vorzüge. Favela-Bewohner und Touristen gewinnen dazu, denn die Ausländer lernen ein Armenviertel kennen. Und die Bewohner treffen auf Ausländer, können sich mit ihnen austauschen; ganz anders, als wenn sie sie nur im Fernsehen sehen oder in der Zeitung von ihnen lesen.

Einige kritisieren, Favela-Tourismus würde als eine Art Abenteuer betrachtet. Sie werfen den Teilnehmern von Touren vor, den Adrenalinkick für den Besuch eines von Kriminellen beherrschten Gebietes zu kaufen.
Meiner Meinung nach wird dies von Menschen kritisiert, die selbst nicht in die Favelas gehen, die gar nicht in die Armenviertel kommen, um sie kennen­zulernen. Das ist auch ein Grund, warum ich diese Touren mache, um eben die Realität der Favela zu zeigen.

Was wissen die ausländischen Besucher von den Favelas? Haben sie Angst davor?
Viele Touristen wissen, dass die Favela ein gefährlicher Ort ist. Aber für die, die dort wirklich leben, fühlt es sich nicht immer so an. Natürlich passieren manchmal Schießereien oder Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Kriminellen. Trotz allem ist die Favela ein sicherer Ort zum Leben.

Dennoch werden Rio de Janeiros Favelas von Drogengangs kontrolliert. Was interessiert die Besucher am meisten?
Viele fragen, ob alle Favelas so sind wie die in dem Film „Cidade de Deus“/„City of God“, der einen von Gewalt beherrschten Alltag Jugendlicher eines Armenviertels Rios zeigt. Die meisten Favela-Bewohner kennen den Film, aber er hat ehrlich gesagt nichts mit unserem Leben in der Rocinha zu tun. Jede Favela hat ihre eigene Kultur und da gibt es große Unterschiede.

Aber Überfälle und Schießereien passieren in den meisten Favelas – so sicher sind die Viertel nicht. Kann es nicht doch gefährlich für ausländische Besucher werden?
Wenn sie mit einem lokalen Guide eine Tour machen, der sich gut vor Ort und mit den Menschen auskennt, existieren eigentlich keine Risiken für die Besucher. Wir wissen, wann es zu einer brenzligen Situation kommen kann, und meiden diese. Mir und meinen Gruppen ist noch nie irgendetwas Seltsames passiert.

Was muss geschehen, damit sich die Rocinha von einem Armenviertel in ein normales Stadtviertel verwandelt?
Ich finde, die Rocinha kann man schon als normales Viertel betrachten. Sie bietet nur nicht die gleichen grundlegenden Dienstleistungen, die reichere Viertel in Rio de Janeiro haben. Es gibt zum Beispiel kein Abwassersystem. Die Qualität der Wasserversorgung oder die Sicherheit in der Rocinha ist noch längst nicht vergleichbar mit denen der wohlhabenden Gegenden.

Wo sehen Sie Ihre eigene Zukunft?
Ich würde gern Tourismus studieren und durch die Welt reisen.

 

Oberdan Basilio Chagas lebt in der größten Favela Rio de Janeiros, der Rocinha. Der 19-Jährige arbeitet dort als Tourguide.
j.jaroschewski@yahoo.de