Terrorismus

Schwache Leistung eines starken Militärs

Seit mehr als einem Jahrzehnt terrorisiert die aufständische Gruppe Boko Haram die Menschen im Norden Nigerias. Fehden zwischen Politikern aus dem Norden und Süden des Landes stehen der effektiven Bekämpfung der Terroristen im Weg. Unzureichende militärische Aktionen verschärfen die Lage.
Soldaten in einem gepanzerten Fahrzeug, das sie Boko Haram in Maiduguri abgenommen haben. Tony Nwosu/picture–alliance/dpa Soldaten in einem gepanzerten Fahrzeug, das sie Boko Haram in Maiduguri abgenommen haben.

Als im April die Terrorgruppe Boko Haram mehr als 200 Schulmädchen entführte, war der internationale Aufschrei groß. Die Nigerianer hatten jedoch schon lange zuvor unter dieser Gruppe zu leiden – vor allem im armen Norden des Landes.

„Boko haram“ bedeutet „westliche Bildung ist Sünde“. Diese Sekte wurde 2001 von Mohammed Yusuf, einem jungen islamischen Prediger, gegründet und trat 2009 durch ihre Angriffe im nordöstlichen Nigeria ins öffentliche Bewusstsein, als sie in Maiduguri Kirchen niederbrannte und mehr als 1000 Menschen umbrachte. Der damalige Präsident Umaru Musa Yar’Adua schickte das Militär gegen Boko Haram los, das Yusuf festnahm und ihn der Polizei übergab. Diese tötete den Prediger ohne Gerichtsverhandlung. Boko Haram organisierte sich daraufhin neu und ist nun eine der gefährlichsten Terrorgruppen Afrikas.

Nigeria verfügt über effektive Institu­tionen und ein starkes Militär. Der Krieg gegen diese Gruppe erwies sich jedoch aus verschiedenen Gründen als schwierig. Anfänglich erweckte Boko Haram den Anschein, pro Islam zu sein, um die Unterstützung der Menschen im Norden zu gewinnen. Dort, wo die Gruppe operiert, sind über 70 Prozent der Bevölkerung muslimisch. Die Sekte konnte vor allem junge arbeits­lose Männer ohne Perspektive rekrutieren.

Hier hatten die Boko-Haram-Führer anfangs leichtes Spiel, die religiösen Gefühle der Menschen zu manipulieren, damit diese ihrer verzerrten Form des Islam folgen. Denn Nigerias Norden liegt bezüglich Alphabetisierung und Bildung hinter anderen Regionen zurück. Von hier stammten die meisten Führer von Nigerias Militärdiktaturen. Fehlende Bildung hat den Kreislauf der Armut in dieser Region fortgeführt, und die Schere zwischen den wenigen Reichen und den Massen von Armen geht immer weiter auseinander.

Boko Haram begann wieder im September 2010 zu wüten, um seinen getöteten Führer zu rächen. Die Gruppe griff viele verschiedene Ziele an: den UN-Sitz in der Hauptstadt Abuja, Polizeigebäude, Märkte, Kirchen, Moscheen, Politiker ebenso wie ­islamische und christliche Religionsführer. Laut konservativen Schätzungen hat diese Gruppe seit 2009 rund 5000 Menschen getötet und aufgrund ihrer Gewalttaten etwa eine Million Menschen intern vertrieben.

Gerüchten zufolge wird Boko Haram von Lokalpolitikern finanziert, die mit der nationalen Regierung eine Rechnung offen haben. Ebenso gibt es Vermutungen, dass die Organisation Geld aus dem Ausland erhält. Bis jetzt sind diese Beschuldigungen nicht bewiesen. Es ist nicht bekannt, wie viele Mitglieder Boko Haram zählt. Soldaten, die gegen die Gruppe gekämpft haben, erklärten wiederholt, dass eine Reihe der Terroristen keine Nigerianer seien.


Kein entschiedenes Durchgreifen

Die nigerianische Regierung brauchte lang, um einen militärischen Gegenangriff zu starten. Präsident Yar’Adua, ein Moslem aus Nordnigeria, starb 2010. Sein Nachfolger wurde der damalige Vizepräsident Goodluck Jonathan, ein Christ aus dem Süden, der das Amt bis heute ausübt. Er stellte sich 2011 zur Wahl, was viele Politiker aus dem Norden missbilligten, weil er damit die sogenannte „Zonen-Formel“ umging. Dies ist ein umstrittenes Abkommen innerhalb der herrschenden People’s Democratic Party, demnach abwechselnd jemand aus dem Norden und aus dem Süden Präsident werden soll.

Die Politiker aus dem Norden baten Jonathan bei den Wahlen, den Platz für jemanden aus dem Norden frei zu machen, weil Yar’Adua seine Regierungszeit nicht vollständig beendet hatte. In ihren Augen verdiente der Norden eine weitere Regierungszeit. Jonathan ignorierte dieses Argument und gewann die Präsidentschaftswahlen. Daraus resultiert jedoch, dass Jonathan nie die Unterstützung hatte, die er braucht, um gegen Boko Haram vorzugehen. Dass Jonathan jüngst angekündigt hat, bei den Wahlen nächstes Jahr wieder anzutreten, wird die Spannungen in seiner Partei verschärfen.

Über die Frage, wie gegen Boko Haram vorzugehen sei, war die Nation 2010 geteilt: Manche forderten einen militärischen Großangriff. Andere, mit Sympathie für den Norden, wollten, dass die Regierung einen Dialog mit der Terrorgruppe aufnimmt. Dieser Ansatz war schon einmal 2009 bei Aufständischen im Niger-Delta erfolgreich gewesen. Jene hatten sich auf Entführungen verlegt und Ölanlagen angezündet, um gegen ausländische Firmen zu protestieren, die ihre Ressourcen mit Billigung der Regierung ausbeuteten. Boko Haram hingegen hat ein völlig anderes Ziel – sie will, dass Nigeria unter das Gesetz der Scharia fällt.

Die Regierung entschied sich schließlich für Zuckerbrot und Peitsche. Sie bot den Aufständischen einen Dialog an und versprach ihnen Amnestie, wenn sie ihre ­Waffen niederlegen. Gleichzeitig rief die Regierung aber in den drei nördlichen Bundesstaaten Adamawa, Borno und Yobe den Notstand aus. Boko Haram führte seine ­Angriffe, Entführungen und Gefängnisaus­brüche fort. Auch Schulen und Medienhäuser wurden zu Angriffszielen. Im April 2012 griff die Gruppe zeitgleich die Büros der Tageszeitung THISDAY in Abuja und Kaduna an. Acht Redaktionsmitglieder sowie Passanten starben durch das Selbstmordattentat in Abuja.

Im Juni 2013 erklärte die nigerianische Regierung Boko Haram schließlich zur Terrororganisation. Im November 2013 folgte die US-Regierung diesem Schritt. Wegen des beschriebenen Nord-Süd-Konfliktes hatte die nigerianische Führung lange gezögert, die Sekte als „terroristisch“ zu bezeichnen. Ein Jahr zuvor hatte sie sogar erfolgreich in den USA Lobbyarbeit geleistet, damit die Sekte nicht als „Terrorgruppe“ klassifiziert wird.

Im Mai 2013 rief die Regierung Jonathans aber schließlich den Ausnahmezustand aus, der den Weg zu einer groß angelegten militärischen Offensive frei machte. Dieser Ausnahmezustand ist schon dreimal verlängert worden und bringt Nigerias Militär unter scharfe Beobachtung. Diese Armee hatte den Frieden in Sierra Leone und Liberia in einer von der ECOWAS (Economic Community of West African States) organisierten Mission wiederhergestellt. Nun war sie nicht imstande, im eigenen Land einen Aufstand niederzuschlagen. Anschuldigungen von Korruption wurden laut. Es kam heraus, dass das Militär minderwertige Ausrüstung gekauft und Gelder unterschlagen hatte. Manche Beobachter vermuten, dass die Terroristen Unterstützer bei den Militärs oder anderen Sicherheitskräften haben. Die Frustration in der Armee explodierte im Mai dieses Jahres in einer Meuterei: Soldaten erschossen einen hohen Offizier. Sie beschuldigten ihn, sie absichtlich in einen Hinterhalt geschickt zu haben, wo Boko Haram mehrere Soldaten tötete. Das Militär hat weitgehend seine Disziplin verloren.

Internationale Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International beschuldigen die Sicherheitskräfte der Menschenrechtsverletzungen, inklusive Folter, willkürlicher Verhaftungen und Erschießungen. Das Militär bestreitet alles. Sein Image wurde jedoch weiter beschädigt, als die Menschenrechtskommission der nigerianischen Regierung das Militär wegen Mordes an unschuldigen Taxifahrern in Abuja anklagte, die angeblich Terroristen gewesen seien und die Stadt infiltrieren wollten. Währenddessen führt Boko Haram immer mehr und zunehmend gefährlichere Angriffe in verschiedenen Teilen des Landes durch; auch Abuja wird immer öfter zum Ziel.


Entführte Mädchen

Die ganze Welt schaute nach Nigeria, als Boko Haram am 14. April 2014 mehr als 200 Mädchen aus einer Schule in Chibok in Borno State entführte. Die Terroristen erklärten, dass sie die Mädchen als Sklavinnen behalten wollen. Die nigerianische Nation war schockiert, dass die Aufständischen scheinbar problemlos 200 Mädchen in einer Region abtransportieren konnten, die eigentlich unter Militärherrschaft stand.

Nun erwarteten die Nigerianer eine schnelle Reaktion ihrer Regierung. Die nächsten Schritte waren jedoch enttäuschend. Am Tag nach der Entführung erklärte das Militär, dass die meisten Mädchen von ihren Kidnappern befreit worden seien, zog diese Aussage aber noch am selben Tag zurück. Die Militärführung musste zugeben, dass sie nicht wusste, wo die Mädchen sind, und konnte nicht einmal eine präzise Zahl der Entführungsopfer angeben.

Die Provinzregierung von Borno State gehört zu einer Oppositionspartei der Landesregierung. Sie stichelte gegen die Bundesregierung und behauptete, der Ausnahmezustand sei nutzlos. Das Bundesbildungsministerium gab zurück, dass es die Gouverneure der drei Staaten angewiesen hatte, den Ausnahmezustand auszurufen und alle Schulen zu schließen, nachdem eine Terrorattacke im Februar 29 Todesopfer in einer Schule gefordert hatte.

Nach der Entführung der Schülerinnen berichteten internationale Medien über Nigeria – und die Situation wurde peinlich für die Regierung. Sie musste die internationale Gemeinschaft um Hilfe bitten und bekam die Unterstützung der USA, Großbritanniens, Israels, Kanadas und anderer Staaten, um die Mädchen zu retten. Menschenrechtsaktivisten starteten die Kampagne „Bring Back Our Girls“ (#Bring Back Our Girls#), um den Druck in den Medien aufrecht zu erhalten. Die Regierung beschuldigt die Aktivisten, von der Opposition finanziert zu sein.

Bis jetzt waren die Militäraktionen nicht erfolgreich. Das Leiden der entführten Mädchen dauert an – ebenso wie Boko Harams Gewalt gegen die armen und schutzlosen Menschen im Norden Nigerias.

Damilola Oyedele ist Chefkorrespondentin für Ausland/Gender bei der Tageszeitung THISDAY in Abuja, Nigeria. damiski22@yahoo.com