Soziale Mobilität

Woran man die nepalesische Mittelschicht erkennt

Nepals Mittelschicht ist in den vergangenen Jahren gewachsen. Das ist eine gute Nachricht, allerdings wird die positive Entwicklung durch den Covid-19-bedingten Konjunktureinbruch gebremst. Auch das tief verwurzelte Kastensystem ist ein Hindernis.
Viele Familien aus der Mittelschicht verdienen sich ihren Lebensunterhalt mit einem kleinen Laden. Rojan Shrestha/picture-alliance/NurPhoto Viele Familien aus der Mittelschicht verdienen sich ihren Lebensunterhalt mit einem kleinen Laden.

In Nepal wächst der Lebensstandard. Angesichts der langen Armutsgeschichte des Landes, des jahrzehntelangen Kampfs für Demokratie und des verheerenden Erdbebens von 2015 ist diese Entwicklung der vergangenen Jahre sehr zu begrüßen.

Nach Angaben der Weltbank zählt Nepal mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 1090 US-Dollar im Jahr 2019 nun zu den Ländern mit sogenanntem „niedrigem mittlerem“ Einkommen. Als einkommensschwach gelten Länder mit einem Pro-Kopf-Einkommen unter 1030 US-Dollar.

Vor zehn Jahren definierte die Asiatische Entwicklungsbank alle Personen als Mittelschichtsangehörige, die über eine Kaufkraft von zwei bis 20 US-Dollar am Tag verfügen – und wies darauf hin, dass die Mittelschicht in Nepal wächst. Der nationale „Living Standard Survey“ Nepals und die Weltbank kamen 2016 zu ähnlichen Ergebnissen.

Dieses Wachstum der Mittelschicht spiegelt einige bedeutende Entwicklungen wider:

  • eine Bevölkerungsverschiebung vom Land in die Städte,
  • ein höheres Bildungsniveau,
  • einen Trend von Arbeiter- und Dienstleistungsberufen hin zu mehr Angestelltenberufen und
  • einen Anstieg der Rücküberweisungen von Nepalis aus dem Ausland.

Allein die Rücküberweisungen sorgten für 27 Prozent des Armutsrückgangs in den untersuchten Jahren; Lohnanstiege in Wirtschaftsbereichen mit hoher Wertschöpfung für weitere 52 Prozent.

Dennoch bleibt Nepal eines der ärmsten Länder Asiens mit vergleichsweise geringem Wirtschaftswachstum, wie der Weltbankbericht „Climbing higher: Toward a middle-income Nepal“ 2017 feststellt. Nepals Pro-Kopf-Einkommen liegt hinter dem der anderen Volkswirtschaften der Region zurück, weshalb fraglich ist, ob der Aufwärtstrend weitergehen wird. Covid-19 hat die Wirtschaft, die bereits Anzeichen von Stagnation aufwies, hart getroffen.

Private Haushalte haben bei sinkendem Bruttoinlandsprodukts-Wachstum geringere Gestaltungsmöglichkeiten und ein erhöhtes Armutsrisiko. Dafür gibt es bereits einige Anzeichen: Der mehrdimensionale Armutsindex der Regierung, der neben dem Einkommen auch die Faktoren Gesundheit, Ernährung, Bildungschancen und Lebensstandard berücksichtigt, ermittelte 2018 eine Armutsquote von 28,6 Prozent.


Die Mittelschicht erkennen

Nepals Mittelschicht wurde noch nicht erforscht, und es existieren keine verlässlichen Einkommensstatistiken. Es gibt aber Erfahrungsberichte, also nichtwissenschaftliche Hinweise oder Belege, auf die sich gestützt werden kann. Die nepalesische Mittelschicht lässt sich am einfachsten durch das definieren, was sie nicht ist. Sie ist wohlhabender als die Subsistenzbauern und die Arbeiter ohne eigenen Landbesitz. Zugleich ist sie ärmer als die Oberschicht, die zumeist Vermögen geerbt hat und mit den einstigen Herrscherklassen verbunden ist.

Auch die Ausgaben geben Hinweise: Mittelschichts-Nepalis erwirtschaften für gewöhnlich ein stabiles, angemessenes Einkommen aus einem Angestelltenverhältnis oder einem kleinen Unternehmen. Zwar können sie sich die teuren, englischsprachigen Privatschulen, die von der Oberschicht besucht werden, meist nicht leisten, wohl aber eine andere gute Ausbildung für ihre Kinder.

Die Mittelschicht lässt sich in zwei Untergruppen unterteilen. Die erste setzt sich aus Händlern, Unternehmern und Verwaltungsangestellten zusammen, die dem Bildungsbürgertum entstammen. Die zweite umfasst Menschen aus eher bescheidenen Verhältnissen, die dank guter Bildung zu Fach- und Führungskräften aufgestiegen sind. Auch die Art der Fortbewegung sagt etwas über die Mittelschicht aus. So nutzen Menschen aus der unteren Mittelschicht eher Fortbewegungsmittel wie Fahrräder oder Motorroller, Angehörige der oberen Mittelschicht hingegen Autos.

Viele Mitglieder der Mittelschicht besitzen ein kleines Haus oder andere Vermögenswerte wie Schmuck, einige auch Land. Auch der Gebrauch von bestimmten Konsumgütern wie Smartphones kann ein Hinweis sein. Häufig legen sie in gewissem Maß ein Konsumverhalten an den Tag, das den eigenen Status zur Schau stellen soll.

Zugleich hält die Mittelschicht aber auch an traditionellen Praktiken fest, von denen einige eher rückwärtsgewandt sind. Wenn zum Beispiel das traditionelle Hartalika-Teej-Fest gefeiert wird – ein hinduistisches Fest an jenem Tag, an dem Lord Shiva die Liebeserklärung der Göttin Parvati annahm –, waschen verheiratete Frauen traditionell die Füße ihrer Ehemänner und trinken vom Wasser des Fußbades. Auch tragen Mittelschichtsfamilien wohl dazu bei, konservative Traditionen wie die Diskriminierung von Witwen zu bewahren.

Gesamtgesellschaftlich gesehen, treibt die Mittelschicht die Wirtschaft an, indem sie Unternehmen gründet. Außerdem sind die englischsprechenden Mittelschichtsangehörigen meist internationaler eingestellt als viele Menschen mit niedrigem Einkommen, die nur die lokalen Sprachen beherrschen.

Die Mittelschicht war maßgeblich an Nepals Aufstieg aus Armut und Diktatur beteiligt. Sie hat die Industrialisierung, Urbanisierung und Modernisierung der Wirtschaft vorangetrieben. Nach der Wiedereinführung der Demokratie in den 1990er Jahren gründete sie unter anderem Tausende von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für eine fairere und gerechtere Gesellschaft einsetzen, auf die Rechenschaftspflicht der Regierung pochen und eine sozialgerechte Entwicklung vorantreiben.

Heute sind Spaziergänge durch die meisten nepalesischen Städte sehr reizvoll, und das ist vor allem der Mittelschicht zu verdanken. Restaurants mit bunten Schildern säumen die Straßen, und die Vielfalt an Boutiquen und Läden wächst stetig. Sie haben nicht nur das Bild der Hauptstadt Kathmandu und anderer Großstädte verändert, sondern auch die Ambitionen ihrer Bewohner. Es gibt immer noch viel Armut in Nepal, aber die wachsende und aktive Mittelschicht zeigt, dass ein Aufstieg möglich ist (siehe Kasten).


Rukamanee Maharjan ist Juradozentin an der Tribhuvan-Universität in Kathmandu.
rukumaharjan@gmail.com

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