Traumata

Keine Zukunft ohne Aufarbeitung der Vergangenheit

Die Region der Großen Seen in Afrika ist von zahlreichen gewaltsamen Konflikten, Fluchtbewegungen und immer wieder neu aufkommenden Gewaltdynamiken gezeichnet. Die Erfahrungen haben die Menschen traumatisiert, und auch die mangelnde Bearbeitung dieser Traumata steigert wiederum die Gewaltbereitschaft und damit das regionale Konfliktpotenzial.
Veranstaltung in Ruandas Hauptstadt Kigali zum Gedenken an den Völkermord von 1994. Ben Curtis/picture-alliance/AP Photo Veranstaltung in Ruandas Hauptstadt Kigali zum Gedenken an den Völkermord von 1994.

Ein einschneidendes Ereignis war der Völkermord in Ruanda im Jahr 1994 mit mehr als 800 000 Toten. Er hat die gesamte Region destabilisiert. Im Osten der Demokratischen Republik (DR) Kongo, die an Ruanda angrenzt, sammelten sich viele Geflüchtete. In der unübersichtlichen Lage bildeten sich neue bewaffnete Gruppen heraus. 1996 begann mit dem Ersten Kongokrieg eine große militärische Auseinandersetzung – die Konflikte um Land, Rohstoffe und Macht halten bis heute an.

Der kongolesische Staat ist in seinen wesentlichen Funktionen im Osten des Landes kaum präsent und übt zum Teil selbst Gewalt aus. Ruanda hat sich zu einem autokratischen Staat entwickelt, der starke Kontrolle über sein Gebiet und die Menschen ausübt. Burundi, das an beide Länder angrenzt, verzeichnete seit der Unabhängigkeit im Jahr 1962 immer wieder Gewaltzyklen mit Massakern an den beiden Bevölkerungsgruppen Hutu und Tutsi. Nach 12 Jahren Bürgerkrieg hat sich seit 2005 auch in Burundi eine zunehmend autokratische Führung etabliert. Sie stürzte das Land 2015 im Zuge der umstrittenen Wiederwahl des ehemaligen Präsidenten Pierre Nkurunziza in eine erneute politische und humanitäre Krise.

Die Gewalterfahrungen haben schwere Traumata in der Bevölkerung dieser Länder ausgelöst. Fehlende Aufarbeitung führt dazu, dass sie reproduziert und teilweise über Generationen hinweg weitergegeben werden. Heute gehen die drei Länder unterschiedlich mit ihrer gewaltvollen Vergangenheit um.


DR Kongo

In der Demokratischen Republik Kongo wurden allein 2018 1,8 Millionen Menschen durch gewaltsame Konflikte vertrieben. Rund 12,8 Millionen Menschen im Land sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Vor allem der Osten leidet seit mehr als 20 Jahren unter Gewalt. 2019 wurden in den beiden Provinzen Nord- und Süd-Kivu mehr als 130 bewaffnete Gruppen gezählt (siehe Interview mit Christoph Vogel im E+Z/D+C e-Paper 2018/02, Schwerpunkt).

Sexualisierte Gewalt ist ein weitverbreitetes Phänomen. In Süd-Kivu wurden zwischen 2005 und 2007 mehr als 20 000 Vergewaltigungsopfer registriert, ein Drittel davon minderjährig. Die Dunkelziffer ist deutlich höher. Andere traumatisierende Erlebnisse wie Entführungen sind ebenfalls sehr häufig. In der nordöstlichen Provinz Ituri gaben 2008 in einer Studie 95 Prozent der 13- bis 21-Jährigen an, mindestens eine traumatische Erfahrung gemacht zu haben. 52,2 Prozent der Teilnehmenden wiesen Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (posttraumatic stress disorder – PTSD) auf. Die Täter stammen häufig aus den Reihen der Armee und Polizei und werden nur sehr selten zur Rechenschaft gezogen. Die weitverbreitete Straflosigkeit und das fehlende Vertrauen in das Justizsystem führen dazu, dass die Opfer die Verbrechen häufig nicht zur Anzeige bringen.

Das staatliche Gesundheitssystem ist marode und kann die notwendige psychische Versorgung nicht gewährleisten. Staatliche Programme zur Aufarbeitung der Vergangenheit sind praktisch nicht existent. „Die Verantwortung, sich um traumatisierte Menschen zu kümmern, wird an nationale und internationale NGOs und kirchliche Organisationen abgegeben“, sagt Kavira Nganza, eine der wenigen Trauma-Therapeutinnen im Osten des Landes.

Es gibt lediglich zwei Krankenhäuser, die Trauma-Patienten behandeln, und beide sind kirchlich finanziert. In einem davon, dem Panzi-Hospital in Bukavu, arbeitet der Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege (siehe Mahwish Gul in E+Z/D+C e-Paper 2018/11, Debatte). Er hat viele Vergewaltigungsopfer behandelt und ruft immer wieder zu einem Ende und einer juristischen Aufarbeitung der Gewalt auf. Doch die amtierende Regierung nimmt sich weder der Vergangenheitsaufarbeitung noch der grassierenden Straflosigkeit an.

Ein Großteil der Gewalt fiel unter die 18-jährige Amtszeit von Ex-Präsident Joseph Kabila, dessen Sicherheitskräfte nicht zuletzt durch die brutale Niederschlagung der Proteste gegen die Verschleppung der Präsidentschaftswahlen zwischen 2015 und 2018 auch aktiv dazu beigetragen haben (siehe meinen Beitrag in E+Z/D+C e-Paper 2018/05, Debatte). Doch von seinem Nachfolger Felix Tshisekedi hat Kabila nichts zu befürchten: Er kündigte kurz nach seinem Amtsantritt 2019 an, dass er die Vergangenheit ruhen lassen werde und Kabila als seinen Verbündeten ansehe.


Ruanda

Ruanda gilt hingegen als Vorbild der Vergangenheitsbewältigung. Die staatlichen Autoritäten gehen einen ganz anderen Weg als die DR Kongo. Der ruandische Völkermord von 1994 zählt zu den größten Gewaltverbrechen des 20. Jahrhunderts. 26 Jahre danach ist die juristische Aufarbeitung zwar abgeschlossen, die Versöhnung innerhalb der Gesellschaft aber noch lange nicht.

Während des Völkermordes wurden rund eine halbe Million Frauen und Mädchen vergewaltigt. Viele Menschen erlebten mit, wie Freunde und Familienangehörige Opfer von Gewalt wurden. Studien zufolge weisen zwischen 25 und 29 Prozent der Menschen in Ruanda Symptome einer PTSD auf. Bei den Überlebenden des Völkermordes liegt die Prävalenzrate depressiver Störungen laut einer Studie von 2018 sogar bei bis zu 53,9 Prozent. Insgesamt wird davon ausgegangen, dass mindestens ein Viertel der 12 Millionen Einwohner des Landes durch den Völkermord schwer traumatisiert wurden und bis heute an den Folgen leiden.

Die UN eröffneten Ende 1994 den Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda, welcher sich mit Anklagen gegen die Hauptverantwortlichen des Völkermords befasste. Allerdings blieb die Mehrheit der Verhandlungen der Gerichtsbarkeit Ruandas selbst überlassen. Aufgrund fehlender Kapazitäten des ruandischen Justizsystems wurden 2002 vorkoloniale Gacaca-Gerichte wiedereingeführt: Laiengerichte, die traditionell nur für leichte Verbrechen wie etwa Diebstahl zuständig waren. Ihre Anwendung auf Gewaltverbrechen im Post-Genozid-Staat brachte viele Herausforderungen mit sich, die Bilanz ist umstritten.

Die Aufarbeitungspolitik Ruandas untersteht in vielen Bereichen einer staatlich vorgegebenen Doktrin. So hat der Staat klare Mechanismen entwickelt, wie mit der Vergangenheit umgegangen und über diese kommuniziert wird. Von staatlicher Seite wird ausschließlich vom „Genozid an den Tutsi“ gesprochen. Hutu, die sich gegen das Morden stellten und deshalb getötet wurden, oder die ethnische Minderheit der Twa, von der schätzungsweise ein Drittel ermordet wurde, finden im offiziellen Sprachgebrauch nur selten Erwähnung. Auch weigert sich die Regierung unter Präsident Paul Kagame bis heute, an der Aufarbeitung der eigenen Menschenrechtsverbrechen mitzuwirken, die sie nach Ende des Völkermordes begangen hat.

Die Art und Weise des Gedenkens ist streng staatlich reguliert. Jedes Jahr wird eine Woche lang des Völkermords gedacht, „um Solidarität mit den ermordeten Tutsi zu zeigen“, wie es offiziell heißt. Den anderen Bevölkerungsgruppen wird das Gedenken an ihre Toten praktisch nicht zugestanden. Das sehr offensive Gedenken, bei dem unter anderem Überlebende von ihren Erlebnissen berichten und sterbliche Überreste der Opfer aufgebahrt werden, löst jedes Jahr retraumatisierende Krisen aus. Die Teilnahme an den Gedenkveranstaltungen ist verpflichtend, Fehlverhalten kann sanktioniert werden.

Während die Regierung seit Jahren große Anstrengungen für die (bildungs-) politische Aufarbeitung des Völkermordes unternimmt, wurde der psychologisch-medizinischen Seite bislang zu wenig Beachtung geschenkt. Ruanda ist trotz einiger Entwicklungserfolge weiterhin ein Land mit niedrigem Einkommen und begrenzten Ressourcen. Dies macht sich im Gesundheitssektor bemerkbar, besonders bei der Behandlung psychischer Erkrankungen. 2016 gab es landesweit nur eine auf psychische Krankheiten spezialisierte Klinik. Ruanda ist in diesem Bereich auf lokale und internationale NGOs sowie auf kirchliche Strukturen angewiesen. Laut dem Gesundheitsministerium wurde die psychische Gesundheit aber mittlerweile zu einer der Hauptprioritäten erklärt. Dementsprechend ist die Zahl des in diesem Fachgebiet spezialisierten medizinischen Personals in den vergangenen Jahren stark gestiegen.


Burundi

Burundi blickt auf diverse Gewaltzyklen seit dem Jahr 1962 und einen 12 Jahre dauernden Bürgerkrieg zurück, dem rund 300 000 Menschen zum Opfer fielen. Nach dem Friedensabkommen von Arusha im Jahr 2000 und dem Ende des Bürgerkrieges im Jahr 2005 hielten die Spannungen an. Die jüngsten Gewaltzyklen folgten vor und während der beiden Präsidentschaftswahlen 2010 und besonders 2015 (siehe meinen Kommentar in E+Z/D+C e-Paper 2016/02, Debatte). Politische Machtkämpfe beeinträchtigten die Versuche, die gewaltvolle Vergangenheit mit Hilfe verschiedener Friedens- und Versöhnungsansätze aufzuarbeiten. Viele Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen haben bis heute politische Positionen inne, was die Aufarbeitung erheblich erschwert.

Seit 2000 gibt es mehrere staatliche und zivilgesellschaftliche Initiativen der Aufarbeitung. Das wohl bedeutendste Dokument ist das Arusha-Abkommen aus dem Jahr 2000. Der Friedensvertrag legte den Grundstein für eine umfassende Machtteilung zwischen beiden Gruppen, Hutu und Tutsi, in Regierung, Parlament, Verwaltung, Polizei und Armee. Auch Transitional-Justice-Mechanismen wie eine nationale Menschenrechtskommission und eine Wahrheits- und Versöhnungskommission (Commission Vérité et Réconciliation – CVR) wurden installiert.

Die CVR hat ihre Arbeit allerdings erst 2014 aufgenommen und ist vielfacher Kritik ausgesetzt. Sie klammert beispielsweise den aktuellen politischen Konflikt seit 2015 aus und hat stattdessen unter großem Medienecho damit begonnen, Massengräber auszuheben, bei denen es sich laut ihrem Leiter einzig um Opfer von Massakern an der Hutu-Bevölkerung aus dem Jahr 1972 handelt. Diese Funde, ihre Dokumentation und vor allem die fehlende psychologische Aufarbeitung bergen die Gefahr, die Menschen erneut zu traumatisieren und im schlimmsten Fall ethnische Ressentiments wiederzubeleben. Die personelle Zusammensetzung der CVR wird allein von der Regierung bestimmt, die somit verhindern kann, dass Verantwortliche aus den eigenen Reihen zur Rechenschaft gezogen werden. Auch die Menschenrechtskommission ist quasi vollständig unter Regierungskontrolle, so dass ihr Beitrag zu einer offenen und ehrlichen Aufarbeitung wohl gering bleiben wird.

Die reguläre Justiz trägt nicht zur Aufklärung der zahlreichen Übergriffe auf Oppositionelle, Menschenrechtsaktivisten sowie zivilgesellschaftliche Akteure bei. Straflosigkeit ist weit verbreitet. Außerdem trat Burundi 2017 als erstes Mitgliedsland aus dem Internationalen Strafgerichtshof aus, nachdem umfassende Untersuchungen der Vorfälle seit 2015 angekündigt wurden. Die im Arusha-Abkommen beschlossene Machtteilung zwischen Hutu und Tutsi wurde durch eine umstrittene Verfassungsänderung im Jahr 2018 und den Antritt der neuen Regierung im Juni 2020 zum großen Teil aufgehoben. Damit ist der fragile Friedens- und Versöhnungsprozesses im Land gefährdet.

Die vielen Gewaltakte in der älteren und jüngeren Geschichte haben die burundische Gesellschaft tief traumatisiert. Laut einer aktuellen Studie kannten 63 Prozent der Menschen mindestens eine Person persönlich, die ermordet wurde. 2012 fand eine Studie heraus, dass etwa ein Viertel der burundischen Bevölkerung so stark traumatisiert ist, dass sie klinische Symptome von traumabedingten Erkrankungen wie PTSD aufweisen. Eine andere Erhebung stellte sogar bei knapp 40 Prozent der Menschen PSTD-Symptome fest. In einer Studie aus dem Jahr 2010 gaben 91,7 Prozent der befragten geflüchteten Burundier an, dem Tod nur knapp entkommen zu sein, 96,7 Prozent hatten ein Familienmitglied durch einen gewaltsamen Tod verloren. Die staatlich regulierte Aufarbeitung von Gewalt konzentriert sich jedoch – ähnlich wie in Ruanda – eher auf politische Aspekte.

Die Konflikte und damit einhergehenden Traumata der Menschen in der Region der Großen Seen sind insgesamt sehr komplex. Zu ihren Auslösern gehören der Völkermord in Ruanda und jahrelange Gewaltzyklen und Bürgerkriege sowie anhaltende interne Vertreibungen und Fluchtdynamiken. Die Konflikte schwelen weiter und werden von verschiedenen politischen, militärischen und ökonomischen Faktoren verschärft. Ohne eine umfassende Aufarbeitung der Vergangenheit wird sich der Weg zu nachhaltiger Stabilität, Sicherheit und Frieden für die Menschen in der Region weiterhin schwierig gestalten.


Gesine Ames ist Koordinatorin des Ökumenischen Netzes Zentralafrika (ÖNZ).
office@oenz.de

Luca Bootsmann war ÖNZ-Mitarbeiter.